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    eXistenZ
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    eXistenZ
    Von Jonas Reinartz

    1999 war das Jahr des Cyber-Thrillers Matrix. Thematisch verwandte Filme wie Josef Rusnaks „The 13th Floor“ oder David Cronenbergs „eXistenZ“ gingen angesichts des unerwartet heftigen Mediensturms nahezu völlig unter. Cronenberg erwarb sich zu Beginn seiner Karriere mit schmutzigen kleinen Filmen wie Rabid, Scanners und Videodrome eine loyale Fangemeinde. Mainstream-tauglich waren seine Werke vor seinem Wechsel in Thriller-Gefilde (mit History Of Violence und Tödliche Versprechen) – mal abgesehen von Die Fliege – nicht gerade. Dafür fielen seine Ausflüge in das von ihm mitbegründete Biohorror-Genre, bei denen er keinerlei Rücksicht auf Ekelschwellen nahm, einfach zu abgründig aus.

    Cronbergs Filme handeln oft von der Fragilität des menschlichen Körpers. Von unschönen Dingen wie Mutationen, Verstümmelungen, Parasiten oder Zerfall, die der Durchschnittskinogänger am liebsten in die hintersten Ecken seiner Gedankengänge verdrängt. Trotz ihrer bisweilen harten Gangart geraten die Gore-Effekte dabei nie zum Selbstzweck, sondern dienen stets der Visualisierung essentieller Themen wie Vergänglichkeit oder Technologiekritik - nur eben aus einer sehr speziellen Perspektive. „eXistenz“ handelt nun von einem revolutionären Videospiel und greift viele von Cronbergs Lieblingsthemen wieder auf, wobei er sie mit einem Verwirrspiel um Illusion und Realität à la Philip K. Dick (Autor von Blade Runner, A Scanner Darkly, Total Recall und Minority Report) verbindet. Trotz des geringen Budgets und einem Skript, das das Potential der Thematik nicht gänzlich ausreizt und die Geschehnisse gen Ende zu rasch abhandelt, dürfte der Film Anhänger des Regisseurs zufrieden stellen.

    Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) ist in der Programmierer-Szene ein Star. Ihre Videospiele werden mit geradezu religiöser Inbrunst verehrt. Angesichts des bevorstehenden Erscheinens ihres neuen Titels „eXistenZ“ wählt die Herstellerfirma Antenna zwölf Testpersonen aus, die das Game im Rahmen einer exklusiven Preview ausprobieren dürfen. Neuartig ist dabei vor allem das Spielsystem: Die Teilnehmer nehmen die Informationen der fleischartigen Konsole über ihren Bioport, eine Öffnung am Rücken, auf. Der Input geht direkt ins zentrale Nervensystem, so dass Simulation und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Da greift plötzlich einer der Teilnehmer zu einer bizarren organischen Schusswaffe und versucht, Allegra zu töten. Der Anschlag misslingt. Allegra und ihrem PR-Praktikanten Ted Pikul (Jude Law) gelingt die Flucht. Offensichtlich steckt die Konkurrenz dahinter. Aber auch in den eigenen Reihen lauern Verräter. Außerdem hat das Spiel Schaden genommen. Allegra muss sich einloggen, um in der digitalen Welt nach dem Rechten zu sehen. Eigentlich benötigt sie dafür Pikuls Hilfe, doch der besitzt keinen Bioport und fürchtet sich vor der unumgänglichen schmerzhaften Einstich-Prozedur…

    Inspiriert wurde der Film durch ein Interview von David Cronenberg mit dem Schriftsteller Salmon Rushdie. Dieser lebte nach dem Erscheinen seines Romans „Die satanischen Verse“, der von konservativen Muslimen als Beleidigung Mohammeds verstanden wurde, in ständiger Todesangst, weil das iranische Staatsoberhaupt Ruhollah Chomeini zum Mord an ihm aufrief. Übersetzer des Buches wurden ermordet und etliche Anschläge gegen Verlage verübt. Ähnliches geschieht im Film Allegra, deren Kunst einen Strudel der Gewalt auslöst. Dieser Aspekt des Zusammenspiels von Fiktion und Realität wird von Cronenberg zwar nicht vertieft, dient allerdings als Aufhänger für eine faszinierende Reflexion über Wahrnehmung und Identität.

    Parodistisch mutet die Darstellung der Videospieler an, die nicht zufällig in einer Kirche zusammentreffen, um ihrem Hobby zu frönen und sich den ultimativen Kick zu verpassen. Da ist es nur konsequent, dass Mensch und organische Maschine eins werden. So wird das Spiel mit einem Sexualakt gleichgesetzt, bei dem der Gamer penetriert wird. Diese Verschmelzung ist eine Metapher für das Problem zunehmender Technologisierung (Cronenberg nennt das „Extension of the human body“) und der damit einhergehenden Orientierungslosigkeit in einer immer komplexer werdenden (Medien-)Gesellschaft. In Zeiten, in denen Spieler immer häufiger jeglichen Kontakt zur Außenwelt verlieren, ist diese Kritik aktueller denn je. Immerhin sind mittlerweile bereits vier Fälle bekannt, in denen sich Süchtige buchstäblich zu Tode spielten.

    Schauspielerisch verlangt „eXistenz“ von seinem Cast nicht allzuviel ab. Jude Law (Hautnah, I Heart Huckabees, Gattaca), der kurz vor seinem Durchbruch mit Anthony Minghellas „Der talentierte Mr. Ripley“ stand, ist konsequent unterfordert. Ähnliches gilt für Jennifer Jason Leigh (Short Cuts, The Machinist). Ihr introvertierter Charakter ist nicht sonderlich ausgefeilt, sondern eher auf Funktionalität für die Entwicklung der Geschichte angelegt. Erwähnenswert sind noch Ian Holm (Alien, Herr der Ringe – Die Gefährten), der als Mad scientist trotz geringer Leinwandzeit dank seines quirligen Auftretens einen bleibenden Eindruck hinterlässt, und Willem Dafoe (Der englische Patient, Spider-Man), der als Mechaniker in gewohnt sinisterer Manier auftrumpft.

    Es ist eben nicht der Cast, sondern insbesondere das Design, das besticht. Gleichermaßen abstoßend wie faszinierend sind die Schöpfungen der Ausstatter. Schlicht furios ist etwa die Szene, in der Pikul die vom Filmplakat bekannte „Zahn-Waffe“ herstellt. Ungläubiges Staunen ist garantiert. Es ist die Liebe zum Detail, die für die größten Vergnügen sorgt. So sind die Parolen der Videospiel-Gegner („Death to the demoness Allegra Geller!") etwa eine amüsante Anspielung auf „Videodrome“, was zumindest Kenner zum Schmunzeln anregt. Zuschauer, die sich ein wenig mit Philip K. Dick auskennen, werden zudem etliche Parallelen zum Werk des Kultautors bemerken. Dessen Markenzeichen, die immerwährende paranoide Stimmung, getränkt von Misstrauen gegenüber anderen Personen vor allem angesichts der Manipulierbarkeit der eigenen Sinne, fügt sich nahtlos in den Cronenberg‘schen Kosmos ein.

    Cronenberg war nie für opulente Regiearbeiten bekannt. Das ist jedoch kein Manko, ganz im Gegenteil. Auch hier inszeniert der „Baron of Blood“ sehr konzentriert und ohne stilistische Mätzchen, mit gedeckten Farben und sparsam eingesetzten Kamerabewegungen. Wohltuend ist auch der ironische Unterton des Films, der gerade im Schlussteil zum Tragen kommt, der mit seinen absurden Gewalttätigkeiten stellenweise fast als Actionfilm-Parodie durchgehen könnte. Negativ wirkt sich hingegen die mit 93 Minuten relativ kurze Laufzeit aus. So reizvoll die Grundidee auch ist, die Szenen innerhalb der Spielwelt geraten etwas redundant und unspektakulär. Hier hätte die Spannungsschraube ruhig etwas mehr angezogen werden dürfen. Zudem ist es schnell passiert, dass man angesichts der undurchsichtigen Verwicklungen und Parteien den Überblick verliert. Einige Wendungen werden einfach zu schnell vollzogen, was wohl kaum beabsichtigt ist, ganz im Gegensatz zur lustvoll zelebrierten Desorientierung mittels der diversen Realitätsebenen. Der leider ein wenig vorhersehbare Schluss-Twist ist konsequent und alles andere als ein bloßes Gimmick. Er lässt das Geschehen in einem neuen Licht erscheinen und lädt so zum zweiten Anschauen ein, um auch die diversen ausgelegten Fähren und versteckten Symbole zu entdecken. Rückblickend erscheint 1999 geradezu als „Jahr der Twists“ – man denke nur an Fight Club oder The Sixth Sense. Natürlich gab es auch zuvor schon derartige dramaturgische Kniffe, doch die Häufung ist schon auffällig und steht wohl im Zusammenhang mit den verbreiteten Ängsten angesichts des bevorstehenden Jahrtausendwechsels.

    Obgleich David Cronenberg mit „eXistenZ“ im Wesentlichen bewährte Sujets seines Gesamtwerkes aufgreift, ist ihm erneut ein im besten Sinne exzentrisches Werk gelungen, das in jeder Szene die Handschrift des Regisseurs erkennen lässt. Wer ohnehin mit den Filmen des unerschrockenen Kanadiers nichts anfangen kann, wird auch durch diesen nicht bekehrt werden. Neulinge sollten jedoch einen Blick riskieren, um auszutesten, ob ihnen der doppelbödige Biohorror zusagt.

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