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    Precious
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Precious
    Von Alex Todorov

    Lee Daniels’ Sozialdrama „Precious“ fehlt auf keiner Favoritenliste für die aktuelle Award Season. Schon auf seiner Festival-Wanderschaft 2009 – vom Sundance Film Festival, über die Berlinale und Cannes, bis hin zum Toronto International Film Festival – erwies sich „Precious“ stets als Publikums- und Kritikerliebling. Dabei betreibt der auf einem Buch von Sapphire basierende Film eine Milieustudie des „Black America“ mit genuin afroamerikanischen Topoi, die Daniels in einen Arthouse-Independent bettet. Öffentlich unterstützt von Oprah Winfrey und Filmmogul Tyler Perry erspielte der Film in den USA mit geringer Kopienzahl beachtliche 42 Millionen Dollar. Doch wird der Film dem Hype gerecht? Bei der Entgegnung auf diese Frage ist zu unterscheiden zwischen der Qualität und der Bedeutung von „Precious“. Qualitativ ist Daniels ein mit viel Fingerspitzengefühl erzähltes Sozialdrama ohne gierige Elendsbilder geglückt, das mit Gabourey Sidibe eine aufsehenerregende Kino-Neuentdeckung bietet und dem Kino mit Mo’Nique eine selten zerrissene Antagonistenfigur schenkt. Eingedenk weniger inszenatorischer Irritationen wird die Qualität des Films übertroffen von seiner Bedeutsamkeit für ein Amerika, das die Rassenschranken mit der Wahl von Präsidenten Obama hinter sich hoffte. Obwohl vor der Wahl gedreht, ist „Precious“ die filmische Forderung nach sozialem Ertrag und Alltagstauglichkeit des „Yes We Can“-Hypes.

    Claireece „Precious“ Jones (Gabourey Sidibe) ist 16, fettleibig, schwarz, quasi Analphabetin und erwartet ihr zweites Kind von ihrem eigenen Vater. Sie schweigt und träumt sich durch den Alltag, während sie zuhause still die groben Misshandlungen ihrer arbeitslosen Mutter (Mo’Nique) erträgt. Ein Stück Hoffnung scheint in ihr Leben zu kehren, als sie die Möglichkeit bekommt, auf einer alternativen Schule einen Abschluss zu machen. Sie lernt lesen und schreiben, löst sich mehr und mehr aus ihrer stummen Verharrung und findet Freunde unter ihren Mitschülerinnen. Doch ihre missgünstige Mutter und ihre dunkle Vergangenheit lassen nicht von ihr ab…

    „Everyday I tell myself: Something’s gonna happen. I’m gonna break through. Someone’s gonna break through to me.”

    Lee Daniels (Shadowboxer) hat sich schon als Produzent des Rassismusdramas Monster’s Ball seine Meriten als Chronist afroamerikanischer Wirklichkeit verdient. Er wurde zum ersten Schwarzen, dessen allein produzierter Film zu Oscar-Ehren kam: Halle Berry gewann anno 2002 – sieht man von ihrer Dankesrede ab - zu Recht den Hauptdarstellerpreis. Wenige Jahre später liegt das Monopol „schwarzer Filme“ fest in den Händen eines gescheiterten Stückeschreibers, der vor einem Jahrzehnt noch arbeits- und obdachlos vor sich hin dämmerte: Tyler Perry. Der Produzent/Regisseur/Drehbuchschreiber/Schauspieler feiert erstaunliche Erfolge, seit er in eine Marktlücke stieß: Er macht Filme für ein exklusiv schwarzes Publikum mit fast ausschließlich schwarzer Besetzung. Wo auch weiße Zuschauer vor mehr als 20 Jahren noch Spaß an der Cosby-Show haben konnten, Rap schon seit zwei Dekaden seine Identität mit dem Überlauf in den (weißen) Mainstream Stück für Stück verlor und schwarze Buddy Movies neueren Jahrgangs wie Bad Boys in jedem weißen Mittelklasse-Teenie den Wunsch gedeihen lassen, die Hautfarbe zu wechseln, sind Perrys Streifen wie Meet The Browns, Madea Goes To Jail oder Tyler Perry’s I Can do Bad All By Myself auf eine Verengung des Zielpublikums ausgerichtet und scheren sich einen Dreck um die Rezeption des weißen Publikums. Wer weiß ist, darf draußen bleiben, denn allein das schwarze Zielpublikum genügt, um die Kassen in den USA mehr als ordentlich zu füllen.

    Während „Menace II Society“ der Hughes Brothers (From Hell, Book Of Eli) 1993 afroamerikanische Lebenswirklichkeit anhand eines gewaltkontaminierten Männerkosmos’ beleuchtete, bekommt man in „Precious“ kaum einen Mann zu Gesicht. Mit Lenny Kravitz hat der einzige Mann in einer größeren Rolle einen „Frauenjob“ als „männliche Krankenschwester“. It’s a Women‘s World. Indes haben Männer überall ihre Spuren der Desolation und Verheerung in den Leben hinterlassen. Die Frauen sind gleichsam verwüstetes Kriegsterritorium, verbrannte Erde, überrannt und traumatisiert zurückgelassen. Drei Frauen bemühen sich, Precious aus ihrem Inferno zu befreien. Zunächst die von Nealla Gordon gespielte Direktorin, dann Paula Patton als Lehrerin und schließlich Mariah Carey als Sozialarbeiterin. Im Klassenzimmer der Alternativschule sitzen dann auch ausschließlich junge Frauen, die der Alltagshölle und Abwärtsspirale durch Alphabetisierung entkommen wollen. So verschieden sie sind, ist es letztlich nicht das Außenseitertum, das sie zusammenschweißt, sondern ihr Frausein. Diese Frauengesellschaft, geschändet und geschädigt, kann es nicht zulassen, dass die zweifache Mutter Precious durchs Raster fällt. Somit ist es ebenso eine unausgesprochene Solidarisierung gegen die Männer. Die Darstellung des weiblichen Opfertums kulminiert in einem unterschwelligen Appell zur Wehrhaftigkeit und zur Aufgabe der Passivität. So trotzt „Precious“ allen Schlägen, mündet freilich nicht in einem Happy End, sondern schließt stattdessen mit einer aktiven Entscheidung. Mehr ist unter den gegebenen Umständen nicht möglich.

    Im Mittelpunkt nahezu aller Perry-Streifen steht eine verlassene oder missbrauchte Frauenfigur, die es wieder aufzurichten gilt. Diese Lektion übernimmt oftmals Perry persönlich in seinem Drag-Alter Ego Madea, das die Frauen das Frausein lehrt. Doch wo „Precious“ eine Geisterbahn sozialer Horrorszenarien durchexerziert, springt Perry brav auf Obamas „Hope“-Zug auf und wirbt ostentativ mit „Hope is closer than you think”. Unterm Strich vermögen Perrys missionarischen, zotigen, indes nicht gerade mit Tiefsinn überfrachteten Moralpredigen nie, sich die Frau ohne den dazugehörigen Mann zu denken. Hirtengleich führt Tyler Perry seine Figuren der Hoffnung und Erlösung zu, während die in „Precious“ mitschwingende Hoffnung ein unentwegtes Trotzdem im Angesicht von Aids und Gewalt ist.

    Precious’ Zuhause ist eine orangebraune Hölle, es brutzelt, kocht und dampft, das Fernsehgerät wirft unstetes Licht, Befehle werden geschrieen und Gegenstände zu Wurfgeschossen oder Schlagwerkzeugen umfunktioniert. Schlimmer ist es auch draußen in Harlem nicht. Precious begleitet den Zuschauer mit einer stumpfen Lakonie aus dem Off durch ihren Alltag und ihre Sehnsüchte. Immer wenn ihr das Schicksal mies mitspielt, taucht sie in Tagträume, in denen sie als Starlet auf dem roten Teppich flaniert, sich in Fotoshootings in Pose wirft oder als Sängerin zum Schmachtobjekt wird. Höhepunkt dieser Phantasien ist eine kurze Schwarz-Weiß-Sequenz, in der Precious und ihre Mutter die Rollen von Mutter und Tochter in Vittorio De Sicas „Und dennoch leben sie“ einnehmen und sich mit großem Pathos auf Italienisch duellieren. Teils schieben sich zwischen diese Refugien abstoßende Bilder der väterlichen Vergewaltigung. Die Phantasie bietet kein Entkommen. Die glitzernden Traumbilder bergen in ihrer größtmöglichen Kontrastspanne ein Für und Wider. Einerseits nehmen sie dem Film eine kaum erträgliche Schwere und gestatten nicht nur Precious, sondern ebenso dem Zuschauer eine Atempause. Doch andererseits ist ein Leben zwischen Vergewaltigung, Aids, häuslicher Gewalt und steter Abweisung kein Wochenende auf dem Ponyhof. Die Tagträume als Indikator der situativen Unerträglichkeit sind schlüssig und sinnig, ihr Aufkommen ist ein etablierter psychischer Mechanismus, den Precious zu kontrollieren lernen möchte. Doch stößt die ausführliche Bebilderung der Phantasien negativ auf, denn der zugrunde liegende immanente Konflikt des Moments gerät in den Hintergrund. Nur weil Precious keine Auseinandersetzung wünscht, muss die Inszenierung dem nicht Folge leisten.

    Überhaupt ist das Nebeneinander von Zuversicht und absoluter Niedergeschlagenheit das atmosphärisch bemerkenswerteste Moment des Films. Vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass Daniels eine exzessive dramaturgische Tendenz zum situativen GAU offenbart. Wenn Precious’ Mutter erstmals ihren neugeborenen Enkel in den Händen hält, überkommt einen ein Schaudern – das sich nur Sekunden später als berechtigt herausstellt. Trotz dieser steten Eskalationsgefahr herrscht keine undurchdringliche Trostlosigkeit. Vergewaltigung, Inzest, schmerzlichstes Außenseitertum, Aids und Tod stapeln sich zu einem wohl unüberwindbaren Wall niederschmetternder Attribute, dem die nie aufgebende Precious mit scheinbar aus dem Nichts kommender Kraft entgegentritt. Wann ruhte ein Film zuletzt auf einer solch monolithischen Physiognomie? Gabourey Sidibe verschwindet hinter ihrem Charakter, ihr Nuscheln, Watscheln und Blickemeiden ist eine Entdeckung, die nur noch von Mo’Nique in den Schatten gestellt wird.

    „I should have aborted your motherfuckin’ ass cos you ain’t shit. I knew the day the doctors put you in my goddamn hand you wasn’t a goddamn thing.”

    Ihr Porträt der Mutter ist ein schreiender Mangel, sie neidet ihrer Tochter alles: die Kinder von ihrem Mann, die Schulbildung, das Frausein. Diese Frau ist ein Kind der Hölle, Mo’Nique spielt sie mit einer Wucht, Hässlichkeit und Widerwärtigkeit – einmal wird angedeutet, dass sie Precious dazu zwingt, sie oral zu befriedigen –, die man nur selten gesehen hat und lieber nicht allzu oft sehen möchte. Das potentielle Argument, ein so abgrundtief boshafter Charakter sei eine vergleichsweise dankbare Rolle, ist ungültig. Zwischen all den Tobsuchtsattacken und Tiraden, der Gewalt und Abstößigkeit, schimmert ab und an kurz und unerwartet ein Stück Mensch durch: ein Gemachtsein, ein Nichtanderskönnen. Das ist Mo’Niques Leistung und es muss mit dem Teufel zugehen, sollte sie von einem Golden Globe oder Oscar verschont bleiben. Der Film gerät trotz dieses körpermächtigen Tochter-Mutter-Gespanns nie zur äußeren Körperschau, und doch sind diese Körper essentiell. Sie sind die Textur innerer Gebrechen und Seelenqualen. Wenn Precious von ihrer Mutter gezwungen wird, eine ekelhafte Schweinehaxe zu essen, ist einem der Brechreiz nicht fern.

    Neben der Debütantin Sidibe ist der Film mit Mariah Carey und Lenny Kravitz waghalsig besetzt. Die Sorge, der Film sabotiere mit der Besetzung zweier Glitzerweltmusiker seine Glaubwürdigkeit, erweist sich als unberechtigt. Die Auftritte beider reißen den Zuschauer nicht aus dem Film und fügen sich gut ein. Carey und Kravitz liefern keine schauspielerischen Offenbarung, meistern ihre Charaktere jedoch überzeugend. Eine Schlüsselrolle hat Paula Patton (Déjà Vu, Mirrors) als Lehrerin inne, die vom ersten Treffen an Precious’ Crux erkennt. Obwohl ihr Spiel schlüssig ist, mag man sich doch daran stören, dass diese Figur mit einer so unfassbar gut aussehenden Darstellerin besetzt wird, während man Mariah Carey eine Plastiknase ins Gesicht pflanzt. Darüber hinaus ist Patton als Katalysator von Precious’ Entwicklung mit pathetischen, hart am Kitsch vorbeischrammenden Sätzen wie „Everybody’s good at something“ oder „You once told me that you never really got to write your story“ gestraft.

    Letztlich ist „Precious“ nicht so gut, wie der Hype es erhoffen lässt. Wie könnte er auch? Dennoch hat Daniels einen außergewöhnlichen, würdevollen, amerikanischen Independent geschaffen: Einen bedeutsamen Film, der in Erinnerung bleiben wird.

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