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    Captain Abu Raed
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Captain Abu Raed
    Von Jan Hamm

    Im krisengeschüttelten Nahen Osten gehört Jordanien seit Jahrzehnten zu den engsten Verbündeten Europas. Wie kaum ein anderes muslimisches Land steht der Nachbaarstaat Israels für kulturelle Offenheit gen Westen. Dass „Captain Abu Raed“, der erste jordanische Spielfilm mit internationalem Kinostart, aber gleich mit der arabischen Variante des amerikanischen Traumes aufwartet, überrascht dann doch. Amin Matalqas tragikomisches Drama lässt die kontroversen Themen der Region beiseite, und erzählt stattdessen vom Kampf um soziale Anerkennung und der Kraft der Träume. In Jordanien wird der Tellerwäscher zwar nicht zum Millionär, wohl aber zum Piloten, und damit zum metaphorischen Inbegriff der Freiheit. Der internationale Erfolg scheint Matalqas unverhohlen sentimentaler Erzählweise Recht zu geben: „Captain Abu Raed“ gewann bereits zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Publikumspreis beim Sundance Festival. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur geht dabei leider unter, als sympathische Hymne auf das Märchenerzählen funktioniert die jordanisch-amerikanische Melange aber in der Tat hervorragend.

    Abu Raed (Nadim Sawalha, Syriana) ist ein einsamer Mann. Seine Familie hat der alte Griesgram schon vor Jahren verloren, Kontakt zu seiner Umwelt vermeidet er seitdem mit lakonischer Konsequenz. Das ändert sich jedoch schlagartig, als er eine Kapitänsmütze findet und beim achtlosen Heimweg vom kleinen Tarq (Udey Al-Quiddissi) beobachtet wird. Der Junge ist felsenfest davon überzeugt, einen echten Piloten vor sich zu haben und steht kurz darauf mit versammelter Clique vor Raeds Haustür. So vehement sich der Alte auch gegen seine neue Rolle wehrt, so schnell bricht sein Widerstand. Bald darauf sitzt Raed inmitten der Kinderschar und erzählt von seinen fiktiven Reisen. Nur Murad (Hussein Al-Sous), der Sohn eines prügelnden Alkoholikers (Ghandi Saber), missgönnt seinen Kameraden die Märchenfreuden und enttarnt den vermeintlichen Piloten als einfachen Müllmann vom Ammaner Flughafen. Doch Raed denkt nicht daran, wieder in seine Höhle zurückzukehren. Gemeinsam mit der Pilotin Nour (Rana Sultan) ersinnt er einen Plan, um den verbitterten Jungen und dessen Familie vor dem berserkernden Vater zu beschützen...

    „Captain Abu Raed“ mag der erste jordanische Zelluloid-Export sein, eigentlich aber handelt es sich bei Matalqas Debut um eine Hollywood-Geschichte vor arabischer Kulisse. „Schreib etwas, in dem auch Charlie Chaplin mitspielen würde.“, forderte ihn der amerikanische Produzent David Pritchard auf. Mit Der große Diktator hat der Film zwar nichts zu tun, die eingeforderte Stoßrichtung gen Westkino hat der Autor und Regisseur aber zweifellos beherzigt. Vor allem da Matalqas Erzählung die kulturellen Themen seiner Heimat höchstens insofern aufgreift, als dass es in der Hauptstadt Amman eine breite Unterschicht mit sehnsüchtigen Aufsteigerträumen gibt. Wo aber auf der Welt findet sich diese Problematik nicht? Die stark muslimisch geprägten Wertevorstellungen, die Folklore Jordaniens, die fragile regionalpolitische Situation - all das hat in „Captain Abu Raed“ keinen Platz gefunden. Es ist schon paradox: Oft genug scheitern die neugierigen Kinoausflüge westlicher Filmemacher an ihrer eingeschränkten Einsicht in die portraitierte Kultur. Andererseits vermeidet es dann gerade der Film eines Heimatkundigen konsequent, das anvisierte Publikum mit allzu fremden Themen zu konfrontieren. Hier wird unangenehm deutlich, wie schwer die Vereinigung von kulturell selbstbewusstem Künstlertum und kommerzieller Realität ist.

    Vor allem aber ist „Captain Abu Raed“ ein Märchen. Und als solches glückt der Film, ganz gleich, wo er nun spielt. Seinen Erzählstil reflektiert Matalqa augenzwinkernd, indem er ausgerechnet einen Märchenerzähler zum Protagonisten wählt. Abu Raeds letzte verbliebene Lust am Leben ist das Lesen. Er weiss nur zu gut, dass Tareq und seine Bande sich eigentlich nicht dafür interessieren, ob er tatsächlich Pilot ist. Was zählt, sind die Geschichten, die die Jungs aus ihrem limitierten Lebensumfeld und ihrer Armut in weit entfernte Länder entführen. Die Enttäuschung, die Murads Offenbarung dann provoziert, spricht nicht etwa von zwischenmenschlicher Ablehnung. Es ist vielmehr die Enttäuschung eines Kindes, das eines Tages den eigenen Vater im Weihnachtsmannkostüm erkennen muss. Murad selber hat seine Vaterfigur schon lange an den Alkohol verloren, und so gönnt der Desillusionierte auch seinem Umfeld keine Illusionen mehr.

    „Captain Abu Raed“ vermittelt das Märchenerzählen als einendes Gesellschaftsritual, das zuerst den Alten selber aus seiner Isolation lockt, und ihn dann dazu veranlasst, dem gepeinigten Murad seine Träume wiederzubeschaffen. Auch Nour wird vom warmherzigen Abu Raed aus ihrem Kokon gelockt. Zwischen den beiden blüht nicht nur eine sensible Freundschaft auf, mehr noch: Mit der Hilfe der Pilotin wird der falsche zum echten Kapitän und lotst Murad und dessen Familie aus ihrem Leid. Das Credo des Flügel verleihenden Träumens ist hier wörtlich zu nehmen. Wenn Murad später selber eine Pilotenlaufbahn einschlägt, dann nur, weil Abu Raed ihm den geistigen Freiraum dafür geschenkt hat. Immerhin - frei nach dem amerikanischen Traum - kann ein Mann alles erreichen, solange er hart dafür arbeitet und an sich glaubt. So - und nur so - kann Murad letztendlich seiner Armut entkommen. Ob das der Realität Ammans entspricht, darf bezweifelt werden. Schade außerdem, dass Matalqa die übrige Kindesschar dabei gänzlich aus den Augen verliert.

    Dass die Geschichte nicht im lichten Hollywood-Kitsch versinkt, ist einem fantastischen Nadim Sawalha als Abu Raed zu verdanken. Bereits im Klassiker James Bond 007 - Der Spion, der mich liebte war er in einer kleinen Nebenrolle zu sehen. Jetzt bekommt der jordanische Mime endlich Gelegenheit, seine vage Bekanntschaft mit dem westlichen Publikum auszubauen. Spielerisch tänzelt er durch die Facetten seiner Figur, vom altersmüden Mann zum Märchenonkel, vom Kumpel zur Vaterfigur. Wie tapfer er Murads aggressive Enttarnung und Demütigung hinnimmt, rührt zu Tränen. Wie schelmisch er kurz darauf wieder grinst, animiert zum Lachen. So feiert das jordanische Kino also seine internationale Premiere – mit einer tragikomischen Erzählung, die im Herzen eigentlich ganz und gar amerikanisch ist. Aber warum auch nicht? Märchen erzählt man sich schließlich überall auf der Welt.

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