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    Love Exposure
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Love Exposure
    Von Björn Becher

    Kino ist großartig, denn Kino kann alles. Im Kino findet man ernste Dramen direkt neben überbordend-bunter oder auch düsterer Fantasy. Es gibt launige Komödien, stille Dokumentationen, krachende Action oder einfach nur die Geschichte von zwei Menschen, die sich lieben. Kino ist ein vielfältiger Strauß, der für jeden die richtige Blüte bereithält. Der japanische Regie-Exzentriker Sion Sono will mehr: Er will den ganzen Strauß. Deshalb hat er „Love Exposure“ gedreht. Ein 237 Minuten langes Monumentalwerk, sein Opus Magnum, und das beinhaltet alles, was man sich nur vorstellen kann: religiöser Fanatismus, sexuelle Perversion, Martial-Arts, Romantik, Splatter und vieles mehr… Das Werk ist Drama, Komödie, Satire, Horror-, Romantik- und Actionfilm zugleich. „Love Exposure“ ist ein einziger wilder Trip, eine einzigartige Kino(grenz)erfahrung, die sich in der Gesamtbetrachtung aber dann doch auf die einfachste und schönste Story der Welt herunter brechen lässt: zwei Menschen verlieben sich ineinander. Auf der Berlinale wurde dieses Juwel zu Recht mit dem Caligari-Preis prämiert. Die Jury begründet die Auszeichnung mit den Worten: „Große Kunst, die kurzweilig, stets klug und souverän ist.“ Der Film rege zum Nachdenken über das Wesen der Liebe, über Religion und das Zusammenleben der Menschen an und sei damit politischer als die meisten sogenannten politischen Filme. Selten hat eine Festival-Jury so passende Worte gefunden.

    Yu (Takahiro Nishikima) ist ein Mustersohn, der nicht einmal die kleinste Kleinigkeit anstellt. Sein Vater (Atsuro Watabe) arbeitet seit dem Tod der Ehefrau als Priester. Mit seinem Sohn versteht er sich bestens. Zumindest, bis eine kurze, schließlich scheiternde Beziehung des Vaters mit der wilden Kaori (Makiko Watanabe) alles verändert. Verlassen und verbittert wird das Familienoberhaupt zunehmend fanatischer und zwingt seinen Sohn wiederholt zum Beichten. Da Yu aber nun mal keine Sünden begeht, muss er dringend etwas anstellen. Er geht beim pflichtbewussten Sündigen immer weiter und trifft schließlich auf eine Gruppe von Herumtreibern. Gemeinsam werden die Teenager von einem schrägen Meister in der Kunst des Unter-den-Rock-Fotografierens unterrichtet, was von nun an zu Yus Lebensaufgabe wird. Eines Tages trifft er zudem die schöne Yoko (Hikari Mitsushima), in die er sich verliebt. Leider hält Yoko, die bis auf Jesus und Kurt Cobain alle Männer hasst, ihn für einen Vollidioten. Stattdessen verliebt sie sich in eine Frau namens Sasori. In Wirklichkeit ist die geheimnisvolle, stets schwarz gekleidete Fremde aber niemand anderes als Yu, der ihr in Frauenkleider gehüllt im Kampf gegen ein paar Schläger zur Hilfe kam. Die Angreifer handelten auf Geheiß der eiskalten Koike (Sakura Ando). Diese requiriert Mitglieder für eine Sekte und hat die Begegnung von Yu und Yoko eingefädelt. Denn sie verfolgt schon lange einen teuflischen Plan…

    Der Dichter und Regisseur Sion Sono zählt zu den am kontroversesten diskutierten Kreativköpfen Japans. Bereits die Eröffnungssequenz seines in gerade einmal zwei Wochen abgedrehten Durchbruchfilms „Suicide Circle“ aus dem Jahr 2001 ist ein heftiger Schlag in die Magengrube japanischer Heile-Welt-Politiker. Händchen haltend springt eine Gruppe von fünfzig Schulmädchen vor einen einfahrenden Zug und damit dem Freitod entgegen. Auch danach waren die Filme des schon seit 1990 als Regisseur tätigen Sono nie reine Genreprodukte, sondern immer auch mit gesellschaftspolitischen Hintergründen besetzt. Dabei zeigte sich Sono durchaus vielfältig. Für „Hazard“, der Geschichte über einen jugendlichen Japaner im New Yorker Ghetto, ging er kurzzeitig sogar in die USA. Mit Exte zeigte er, dass er auch den J-Horror exzellent beherrscht, indem er dem ausgelutschten Genre noch neue Facetten abgewann. Und in „Strange Circus“ vereinte er visuell atemberaubende Bilder mit einer Geschichte, die dem Zuschauer immer wieder mit vollem Anlauf in die Eier tritt. Die oft angestrengten Vergleiche mit den besten Filmen von Takashi Miike (Audition, Juvenile, A Big Bang Love, Visitor Q) kommen also nicht von ungefähr.

    „Love Exposure“ stellt nun einen neuen Höhepunkt des Kinowahnsinns dar und sprengt alles bisher Dagewesene. Da folgt auf Szenen von unglaublicher Schönheit und Romantik eine Kastrationssequenz, in der ein Penis inklusive heftigem Blutgespritze der Schere zum Opfer fällt. Ein Part des Films, in dem Yu und seine Freunde in die Kunst des Unter-den-Rock-Fotografierens eingeführt werden, ist im Stile alter Martial-Arts-Streifen inszeniert. Mit immer neuen Gadgets und den absonderlichsten „Moves“ erlernen und perfektionieren die Jungen die absurderen Wege, um mit ihrem Fotoapparat unbemerkt unter den Rock der Mädchen zu kommen. Eine zwischenzeitliche Gaudi, die sich – und das ist Sonos große Kunst – wie auch alle anderen abseitigen Motive nie wie ein Fremdkörper anfühlt. Die aberwitzige Mischung behält ihre Homogenität und die Übergänge funktionieren, auch wenn sie noch so radikal sind. „Love Exposure“ wirkt nie wie eine Aneinanderreihung unterschiedlicher Stile, sondern immer wie aus einem Guss. Sion Sono exerziert seinen wilden Mix auf allen Ebenen des Films fort. Ähnlich wie er scheinbar unvereinbare Genres und Themen miteinander kombiniert, bringt er auch die unterschiedlichsten Musikstile in Einklang. Da treffen chorale Klänge, Maurice Ravels „Bolero“, Beethoven, Hardrock und J-Pop aufeinander und gehen teilweise ineinander über.

    Die Geschichte von „Love Exposure“ entwickelt sich in fünf Akten, in denen verschiedene Erzählperspektiven eingenommen werden. Dabei dauert es rund 60 Minuten, bis überhaupt die Titelschrift „Love Exposure“ auf der Leinwand erscheint. Immer wieder kündigen Zwischentitel in Countdown-Art („noch 365 Tage…“, „noch 2 Stunden…“, „noch 3 Minuten…“) ein kommendes Wunder an. Als dieses Wunder erweist sich dann nach den Höschenfotos und Schlägereien doch die Liebe. Liebe wird dabei, wie der Regisseur sein Anliegen auch im Presseheft noch einmal deutlich macht, nicht „zur Schau gestellt“ (exposed love), sondern „lediglich gezeigt“ (love exposure).

    Fazit: In Anlehnung an den Filmemacher Rosa von Praunheim lässt sich über Sion Sonos eindrucksvolles Werk sagen: „Nicht der Perverse ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.“ Sion Sono legt mit „Love Exposure“ keinen Film vor, der sich über seine Charaktere lustig macht, sie demaskiert oder ihre Perversion verteufelt. Es ist ein inhaltlich zutiefst humanistischer Film, ein klares Plädoyer für die Liebe, das zudem formal herausragt. Trotz des Wandelns durch alle Genres und Stilrichtung, zeigt sich dabei, dass die Liebe die größte Kraft ist und sich gegen alles durchsetzt, auch in filmischer Hinsicht. Nicht umsonst wird gegen Ende „Das hohe Lied der Liebe“ aus Korinther 13 – wirkungsvoll unterlegt mit Beethovens 7. Symphonie - zitiert. Ein wunderschöner, überwältigender Moment voller Pathos und Romantik.

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