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    Pulp Fiction
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Pulp Fiction
    Von Carsten Baumgardt

    1992 ließ ein Independent-Film aufhorchen, der vor Coolness und brillanten Dialogen nur so strotzte: das Gangster-Drama „Reservoir Dogs" - das Regiedebüt von Quentin Tarantino. Das Problem: Außer ein paar Kritikern bemerkte dieses kleine Meisterwerk zunächst niemand. Das sollte sich erst zwei Jahre später ändern, als das Regie-Wunderkind seinen zweiten Streich ins Rennen schickte. Das grandiose Gangster-Epos „Pulp Fiction" avancierte für viele Experten und Fans zum besten Film der 90er Jahre, machte aus Tarantino einen Superstar und bescherte dem einstigen Eintänzer John Travolta ein wundersames Sensations-Comeback. Warum? Cooler als „Pulp Fiction" ist kein anderes Werk der Filmgeschichte, dazu ist der Thriller brillant geschrieben und gespielt, dramaturgisch perfekt.

    Das Kleinkriminellen-Pärchen Pumkin (Tim Roth) und Honey Bunny (Amanda Plummer) will den „großen Coup" landen und die Gäste eines L.A. Diners ausnehmen. Das klappt erstmal ganz gut. Dumm nur, dass die beiden Schmalspurganoven an den Profigangster Jules (Samuel L. Jackson) geraten, der an einem der Tische sitzt. Er ist zwar bereit, seine Brieftasche mit der Aufschrift „Bad Motherfucker" samt mehrerer tausend Dollar Inhalt abzugeben, aber nicht den schwarzen Aktenkoffer, den Pumkin und Honey Bunny einkassieren wollen. Das Szenarium eskaliert, Jules dreht den Spieß um, bei den Anfängern liegen die Nerven blank... Szenenwechsel: Hitman Jules und sein Partner Vincent Vega (John Travolta) unterhalten sich auf dem Weg zu einem Auftrag für ihren Boss Marcellus Wallace (Ving Rhames) angeregt über die Vorzüge der niederländischen Burger-Kultur ("Hamburger! Der Grundstein eines jeden nahrhaften Frühstücks!") , beinahe todesbringende Fußmassagen und die Tücken des metrischen Systems. Auf dem Rückweg richten die beiden eine riesige Sauerei in ihrem Wagen an. Aus Versehen verteilt Vincent das Gehirn einer Geisel auf den Polstern. Der Profi-Cleaner Mr. Wolf (Harvey Keitel) soll das Dilemma beheben. Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis) hat andere Sorgen. Er hat einen Kampf an den Unterwelt-Chef Wallace verkauft, will aber doppelt abkassieren und setzt bei einem Wettbüro viel Geld auf seinen Sieg. Das macht Marcellus fuchsteufelswild, er will den Abtrünnigen auf der Stelle umbringen lassen. Das sind nur einige der Handlungsfäden. Ebenso ereignis- und folgenreich ist das Date von Vincent mit Marcellus Frau Mia (Uma Thurman) und Butchs Vorliebe zur goldenen Uhr, die ein Kriegskamerad (Christopher Walken) seine Vaters einst in seinem Hinterteil vor den Aufsehern des koreanischen Gefangenenlagers versteckte.

    Kein anderer Film war in den 90er Jahren so stilbildend, zog so viele Epigone nach sich wie „Pulp Fiction". Der ehemalige Videotheken-Angestellte Tarantino, ein hoffnungsloser Filmfreak, schrieb in seiner Freizeit ein Drehbuch nach dem anderen. Das Skript zu Tony Scotts furioser filmischer Achterbahnfahrt „True Romance" stammt zum Beispiel aus Tarantinos Feder. Für sein Zweitwerk tat er sich mit Roger Avary zusammen und schrieb ein derart brillantes Drehbuch, das nicht nur durch kultige, spritzige Dialoge glänzt, sondern zudem durch einen fantastischen dramaturgischen Aufbau begeistert. Am Anfang des Zweieinhalb-Stunden-Tripps werden zahlreiche, scheinbar zusammenhanglose Storyfäden ausgeworfen - und auf wundersame Weise fügen sie sich am Ende zu einem logischen, homogenen Ganzen zusammen. Dabei spielt Tarantino mühelos mit verschiedenen Zeitebenen, ohne aus dem Rhythmus zu kommen oder einen Verlust an Plausibilität zu erleiden.

    Das ausgefeilte Buch macht es den Protagonisten - allesamt Antihelden – einfach, zu überzeugen. Trotzdem wäre John Travolta wohl der letzte, von dem man einen solchen Charakter erwartet hätte. Und allen Zweifeln zum Trotz spielt der ehemalige „Saturday Night"-Star, dessen Karriere eigentlich schon den Bach runter war, seinen Vincent Vega als die Rolle seines Lebens. Keiner verkörpert eine solche Coolness wie der Oscar-nominierte Travolta in „Pulp Fiction". Tarantino glaubte an seinen Star und hatte recht. In der Folge durfte Travolta wieder in guten Filmen mitwirken („Get Shorty", „Face/Off" etc.) und ist heute immer noch eine Größe in Hollywood. Nicht weniger gelungen sind die Performances von Samuel L. Jackson, der als moralischer Killer - der mit Vorliebe Hesekiel 25,17 [1] zitiert - zum Kult wurde, oder Bruce Willis, der sich mit Ving Rhames ein bizarr-packendes Duell liefert. Uma Thurman ist als koksende Gangsterbraut ideal besetzt. Auch die zahlreichen Nebenfiguren von Christopher Walken, über Harvey Keitel und Eric Stolz bis zu Tim Roth und Amanda Plummer fügen sich exzellent ins Gesamtkunstwerk „Pulp Fiction" ein. Selbst Aushilfsschauspieler Tarantino, der einen kleinen Part übernimmt, fällt nicht negativ auf.

    Was ist das Besondere, das den Film so visionär, so legendär macht. Das Konzept, dass Gangster auch nur Menschen sind, und wie die Klatschweiber tratschen, ist neu, originell. Jenseits irgendwelcher Moral agieren sie alle in ihrem eigenen Mikrokosmos, in dem andere Gesetze gelten als in der Welt des normalen Spießbürgers. Obwohl die Figuren deutliche moralische Defizite haben, fiebert der Zuschauer mit den Charakteren mit. An der Kinokasse war der Independent-Film ein einziger Triumph. Für nur acht Millionen Dollar gedreht, spielte er allein in den USA 110 Millionen wieder ein – weltweit knapp 300 Millionen Dollar. Dabei entwickelte sich der Thriller überall zum extremen Langläufer. In Deutschland lockte das Meisterwerk am ersten Wochenende auf Platz 9 bescheidene 45.000 Zuschauer vor die Leinwände - bisher haben ihn mittlerweile 1,6 Millionen Deutsche gesehen, ungefähr das 35-fache des Startwochenendes. Durchschnittlich ist eine Verdreifachung - alles, was drüber liegt, schon als gut zu bewerten. 1997 ließ Tarantino den nicht minder guten „Jackie Brown" folgen, danach nahm er eine lange Auszeit. 2004 startet er mit „Kill Bill" (wieder mit Uma Thurman) sein Comeback.

    [1] "Der Pfad der Gerechten ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und da steht weiter ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, daß sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe."

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