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    Achterbahn
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Achterbahn
    Von Carsten Baumgardt

    1998 wollte Star-TV-Regisseur Dieter Wedel in seiner sechsteiligen Kriminellen-Saga „Der König von St. Pauli“ den Geist des Hamburger Rotlichtmilieus zelebrieren und erlitt damit spektakulären Schiffbruch, weil in seinen künstlichen Studionachbauten einfach keinerlei Kiez-Feeling aufkam. Der Fehlschlag leitete den Karriereabstieg Wedels ein, der zuvor zurecht als Großmeister des TV-Mehrteilers („Wilder Westen inklusive“, „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“) gefeiert wurde, und gilt als Paradebeispiel dafür, dass es mitunter schwerer als erwartet ist, ein Milieu stimmig einzufangen. Am anderen Ende der Qualitätsskala meldet sich nun Regisseur Peter Dörfler (Der Panzerknacker) zu Wort: „Achterbahn“ ist das genaue Gegenteil von Wedels Kiezkönig, denn die Dokumentation über den charismatischen Schausteller, Vergnügungspark-Pleitier und Drogenhändler Norbert Witte strotzt nur so vor Authentizität und Atmosphäre.

    Der gebürtige Hamburger Norbert Witte schrieb zu Beginn des Millenniums deutschlandweit Schlagzeilen, als er den Berliner Spreepark im Treptower Plänterwald mit 15 Millionen Euro in die Kreide ritt und eine satte Schlange von 160 Gläubigern aufreihte. 2002 setzte sich Witte samt Familie und diverser Fahrgeschäfte illegal nach Peru ab, um dort neu anzufangen. Der Umbruch schlug fehl, aber die Schulden blieben. Mit einem riskanten Drogengeschäft, bei dem er 167 Kilo Kokain in einem Karussell nach Deutschland schiffen wollte, plante sich Witte zu sanieren, ruinierte damit aber seine Ehe und brachte nicht nur sich, sondern auch seinen damals 20-jährigen Sohn Marcel hinter Gitter. Doch während sich Witte zum Zeitpunkt der Verhaftung wegen einer Herzoperation zufällig in Deutschland aufhielt, wo er im Mai 2008 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, hat es Sohn Marcel bedeutend schlimmer erwischt. Er sitzt immer noch in Peru im Gefängnis und bangt täglich bei extremen Haftbedingungen um sein Leben. Die Versuche der Familie, ihn mittels Schmiergeldern frei zu bekommen, sind bisher allesamt gescheitert…

    Das größte Pfund von Dörflers Film ist sein Protagonist: Norbert Witte, Herzblutschausteller und Sohn des Hochstaplers Otto Witte, ist eine derart schillernde und spannende Persönlichkeit, dass allein das Nacherzählen der Vita schon eine Bank wäre. Aber Dörfler besitzt auch ein sensibles filmisches Gespür. Er inszeniert die heute verwucherte Spreepark-Ruine als nahezu surrealen Ort, der Zeugnis darüber ablegt, was früher einmal war. Exemplarisch dafür ist gleich die Eröffnungssequenz, in der Witte in stilisierter Zeitlupe in einem Rummelfahrgeschäft auf und ab fährt, ein atmosphärisches Sinnbild für Wittes Karriere, die immer wieder Höhen und Tiefen verzeichnete. So etwa 1981, als er auf dem Hamburger Dom durch Fahrlässigkeit einen Fahrgeschäft-Unfall auslöste, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen. Familie Witte floh in den Ostblock, um dem ruinierten Ruf zu entkommen und einige Jahre später erstarkt zurückzukehren. Der ehemalige DDR-Vergnügungspark im Plänterwald, den Witte nach der Wende übernahm, entwickelte sich zunächst zum Renner, bevor es steil bergab ging.

    Filmstarts im Gespräch mit Regisseur Peter Dörfler + große Bildergalerie aus dem Spreepark.

    Es wäre ein Leichtes gewesen, den zwielichtigen Norbert Witte vorzuführen, wie es etwa die Berliner Tagespresse tat. Diesen Fehler macht Dörfler nicht, er geht über die Schlagzeilen hinaus und wagt einen schärferen Blick auf die Person. Trotz all seiner Fehler strahlt Witte schieres Charisma aus und ist mitunter sogar charmant. Er gesteht seine Verfehlungen zwar ein, spielt sie aber auch herunter. Er leidet und klammert sich doch stets an seinen eisernen Optimismus, der Misere wieder entsteigen zu können. Die Unterstützung seiner Kinder ist ihm mittlerweile wieder gewiss, nur seine Frau Pia will ihm nicht verzeihen, dass er Sohn Marcel in den lebensbedrohlichen peruanischen Bau gebracht hat. Anhand von Zeitzeugen, Archivaufnahmen und privaten Videos zeichnet Regisseur Dörfler ein messerscharfes Porträt Norbert Wittes. Denn „Achterbahn“ ist keinesfalls eine 90-minütige Nachzeichnung der Spreepark-Pleite. Das Scheitern im Berliner Osten nimmt nur einen kleinen Teil der Dokumentation ein.

    Dörfler gelingt es mühelos, die Klaviatur der Emotionen auf- und abwärts zu spielen. „Achterbahn“ ist tragisch, bedrohlich, dramatisch und oft sogar komisch, weil die Schausteller-Familie eben dermaßen unerschütterlich ist und ihre ganz eigene Einstellung zur Welt gefunden hat. Sie spricht die Sprache der Straße, Pragmatismus dirigiert das Handeln. Bis auf einige kleinere Hänger im Mittelteil bietet der Film spannende Unterhaltung, hochinteressante Innenansichten und eine Krimistory, die so unglaublich klingt, dass sie einfach erzählt werden muss. Zum Glück fand sich mit Peter Dörfler jemand, der differenziert genug an die Sache herangeht, damit am Ende ein hochinteressanter Dokumentarfilm dabei herausspringt, der sich als kleine Genreperle erweist, weil der Film ein bestimmtes Milieu so exakt wie nur denkbar erfasst und schildert.

    Fazit: „Achterbahn“ ist eine schillernde, fein gezeichnete Charakter- und Milieustudie, die alles bietet, was eine packende Dokumentation ausmacht: hochspannende Figuren, eine aberwitzige Geschichte und eine atmosphärische Inszenierung, die sich dem Format Kino würdig erweist und weit über dem Niveau der üblichen TV-Reportagen rangiert.

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