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    Allein in vier Wänden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Allein in vier Wänden
    Von Christian Horn

    Ein russisches Kindergefängnis im Ural: Hier sitzen 120 Jungs zwischen elf und 16 Jahren ihre Haftstrafen ab, die sie für Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord erhalten haben. Die russisch-stämmige, inzwischen in Deutschland lebende Regisseurin Alexandra Westmeier musste vier Jahre auf eine Genehmigung warten, um in dieser Anstalt einen Dokumentarfilm drehen zu dürfen. Und das Warten hat sich gelohnt: Der jungen Regisseurin ist mit „Allein in vier Wänden“ ein Film gelungen, der mit viel Gespür für Bilder, Montage und Atmosphäre den militärisch geprägten Alltag der inhaftierten Kinder einfängt und subtil zu einer Erzählung verdichtet. Doch bei einem Alltags-Porträt der Jungs belässt der Film es nicht. Westmeier bettet die Schicksale der minderjährigen Straftäter in einen größeren gesellschaftlichen Kontext ein, indem sie die Eltern und Lebensumstände ihrer jungen Protagonisten ebenfalls in ihren Blick einschließt. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger oder gestelzte Dramatik präsentiert sich „Allein in vier Wänden“ so als erschütternder und aufrichtiger Dokumentarfilm, der auf ein sehr konkretes Problem hinweist. Völlig zu Recht hat „Allein in vier Wänden“ dafür schon zahlreiche Auszeichnungen auf internationalen Festivals - etwa in Locarno und Melbourne - erhalten.

    Als Protagonisten im Kindergefängnis etablieren sich Ljoscha und Tolja. Ersterer wird während der Dreharbeiten in die Anstalt eingeliefert und kommt zu Beginn gar nicht mit den neuen Lebensumständen klar. Von Heimweh geplagt, schließlich konnte er sich nicht einmal von seiner Mutter verabschieden, zieht er sich in sich selbst zurück. Tolja hingegen sitzt schon länger ein. Mit dreizehn Jahren hat er einen anderen Jungen aus seinem Dorf mit einem Ziegelstein erschlagen. Überraschend reflektiert ist er sich völlig darüber im Klaren, dass viele der Mitgefangenen nichts mit ihm zu tun haben wollen.

    Ohne Off-Kommentar lässt Westmeier diese beiden Jungs und viele andere vor der Kamera über ihren Werdegang, ihre Sorgen und Pläne sprechen. Mehr als einmal bekommt sie dabei zu hören, dass es innerhalb der Gefängnismauern ohnehin einfacher sei als draußen. Dieses „Draußen“ rückt Alexandra Westmeier in kurzen, ebenfalls unkommentierten Exkursen in den Fokus. Sie besucht die Mutter von Toljas Opfer und die Eltern von Tolja und Ljoscha. Die ärmlichen, entlegenen Dörfer, in denen sie diese Menschen antrifft, sprechen Bände: Die in Russland weit auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich wird hier nachhaltig offenbart. Viele der Eltern haben nicht einmal genug Geld, um ihre Kinder in der Haftanstalt zu besuchen, und die Jungs fragen in ihren Briefen, ob die Eltern denn überhaupt genug Geld für Essen haben. Der gesellschaftliche Kontext, in dem die Kinder straffällig geworden sind, ist von Verrohung und Armut geprägt – die Perspektive für die Zeit nach der Haftentlassung ist dementsprechend trost- und beinahe hoffnungslos.

    Tolja etwa, der mittlerweile entlassen wurde, ist nun völlig auf sich alleine gestellt. Die Eltern haben ihn verstoßen und in seinem Dorf herrscht Konsens: „Töten sollte man dieses Kind.“ Also wartet er nun in einem verlassenen Haus darauf, dass er in die russische Armee eintreten kann. Wenn er bis dahin nicht wieder inhaftiert worden ist: Ähnlich wie anderswo werden auch in Russland 91 Prozent aller minderjährigen Straftäter rückfällig.

    „Allein in vier Wänden“ entlässt den Zuschauer mit einem flauen Gefühl. Westmeier und ihr Kameramann haben mit ihren eleganten, hochgradig narrativen Bildern und der übersichtlichen Montage lediglich auf das Problem hingewiesen; eine Lösung desselben steht freilich in den Sternen. Wenn die Jungs am Ende dann ein russisches Kinderlied singen, ist das ein bitterer Moment: Man sieht ihre zu früh erwachsen gewordenen Gesichter, die fundamentale Tragik in ihren Augen – und weiß, dass sie vermutlich schon jetzt verloren sind.

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