Mein Konto
    Carrie - Des Satans jüngste Tochter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Carrie - Des Satans jüngste Tochter
    Von Jonas Reinartz

    Es gab Zeiten, in denen Stephen King so populär war, dass scheinbar jede seiner Veröffentlichungen, sei es nun eine kurze Erzählung oder ein dicker Schmöker, eine Verfilmung nach sich zog. Das ist nicht schwer nachzuvollziehen, schildern seine routiniert verfassten Werke doch mit Vorliebe den Einbruch des Übernatürlichen ins Alltägliche, was sich äußerst publikumswirksam auf die Leinwand übertragen lässt. 1976 nahm sich der damals kaum bekannte Brian De Palma (Scarface, Mission Impossible) Kings Debütroman „Carrie" an, was gleichzeitig den Beginn einer langen Reihe an Adaptionen markiert. Die Geschichte um ein gedemütigtes Mädchen mit übersinnlichen Kräften nutzt De Palma für eine furiose Talentprobe seiner inszenatorischen Fähigkeiten und frönt dabei wie so oft genüsslich seiner Faszination für Alfred Hitchcocks Oeuvre. Vom kalauerhaften Namen der „Bates High School" bis hin zur bisweilen enorm übertriebenen Musik Pino Donaggios, die nicht zufällig den Stil eines Bernard Herrmann lustvoll auf die Spitze treibt, konstruiert der Regisseur seine ganz eigene opernhafte Kunstwelt. Darüber vergisst er jedoch nie die Charakterzeichnung seiner Hauptfigur, die von einer brillant aufspielenden Sissy Spacek (JFK) verkörpert wird. Insbesondere ihrer oscarnominierten Leistung als einsame Seele ist es zu verdanken, dass der Horror-Thriller deutlich mehr Substanz als gewöhnliche Spannungsware vorzuweisen hat und den Zuschauer – durchaus schmerzvoll – in hohem Maße emotional involviert.

    Die ebenso schüchterne wie unsportliche Carrie White (Sissy Spacek) ist an ihrer Highschool eine klassische Außenseiterin. Als sie plötzlich in der Schuldusche ihre erste Periode bekommt und schockiert reagiert, wird sie von ihren Mitschülerinnen, angeführt von der hochnäsigen Chris (Nancy Allen), auf übelste Weise verhöhnt. Bis dato gänzlich unaufgeklärt, wird sie von ihrer Mutter Margaret (Piper Laurie), einer religiösen Fanatikerin, daraufhin eingesperrt und gezwungen, für die Vergebung ihrer Sünden zu beten. Inzwischen hat sich die Sportlehrerin Miss Collins (Betty Buckley) des Vorfalls angenommen. Sie zwingt die Übeltäterinnen zu zusätzlichen Sportstunden. Da Chris sich verweigert, darf sie nicht den von ihr sehnsüchtig ersehnten Abschlussball besuchen. Dorthin wird Carrie wider Erwarten mit Tommy (William Katt) gehen, da dessen Freundin Sue (Amy Irving), die sich Schuldgefühle wegen Carries Behandlung macht, ihn dazu überredet. Gemeinsam mit ihrem Freund Billy (John Travolta) schmiedet Chris derweil aus Rachsucht einen tückischen Plan...

    Im Kern handelt es sich bei „Carrie" um die traurige Geschichte einer gescheiterten Sozialisation. Die Protagonistin ist dabei nicht einmal so überzeichnet, wie man es vielleicht erwarten könnte, sondern trägt durchaus Züge, mit denen sich das Publikum ohne allzu große Mühe zu identifizieren vermag. Die Nebenfiguren, insbesondere Carries geisteskranke Mutter, sind dagegen böse Karikaturen in Reinform, was allerdings keinen Nachteil darstellt, sondern sich im Rahmen der Dramaturgie als sehr effektiv erweist. Im Laufe seiner wechselhaften Karriere wurde De Palma oftmals vorgeworfen, er sei ein herzloser Stilist, der leichtfertig seiner formalen Virtuosität Charaktere und Handlung opfere. Bisweilen sind diese Vorwürfe nicht ganz unberechtigt, doch meistens beruhen sie auf einem Missverständnis. Ähnlich wie bei seinem großen Vorbild Hitchcock geht es ihm eben prinzipiell mehr um die affektive Manipulation der Zuschauerschaft durch audiovisuelle Eindrücke als um inhaltliche Belange.

    „I like stylization. I try to get away with as much as possible until people start laughing at it." - Brian De Palma

    Auch hier schöpft er aus dem Vollen, vor allem die Abschlussball-Szene zeichnet sich durch ihre meisterliche Umsetzung aus. Zeitlupe, ausgedehnte Kamerafahrten und Split-Screen-Montagen – allesamt wohldosiert eingesetzt – sorgen für Momente wahrer Kino-Magie. Einige dieser Bilder gehören seitdem zum festen Kanon der Horrorfilm-Ikonographie. Hinzu kommt als Ausgleich die höchst beeindruckende Darstellung Sissy Spaceks, deren sensibles und erschütterndes Porträt eines Mobbingopfers noch lange nach Filmende nachwirkt. Amy Irving (Harry außer sich), die im Übrigen für einige Jahre mit einem gewissen Steven Spielberg verheiratet war, wird nicht allzu viel abverlangt, während Nandy Allen (Dressed To Kill, RoboCop) gewohnt blass bleibt. Piper Laurie (Faculty) allerdings chargiert dermaßen hemmungslos, dass es eine wahre Freude ist. Ihr exaltiertes Spiel deckt sich überdies mit der pop-psychologischen Konzeption ihrer Figur und De Palmas spektakulärer Gestaltung der Spannungssequenzen, so dass es zu keinen nennenswerten Reibungen kommt.

    Auch mehr als drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung ist der Klassiker-Status von „Carrie" vollends berechtigt. Mit seiner packenden Melange aus übernatürlichem Horrorfilm und Außenseiterdrama gelang es der ersten Stephen-King-Verfilmung überhaupt, ein Niveau zu etablieren, dem die meisten der darauffolgenden Adaptionen erfolglos nachhechelten.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top