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    Die Unbekannte
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Unbekannte
    Von Patrick Becker

    Giuseppe Tornatore hat einen neuen Film gemacht! Die Tatsache an sich, könnte man meinen, ist schon mal eine gute Nachricht. Wer allerdings jetzt los rennt, wahlweise Freund oder Freundin einpackt und einen verträumt-melancholischen Kinoabend erwartet, dürfte etwas ernüchtert nach Hause fahren. „Die Unbekannte“ ist nämlich ein ziemlich düsterer Genremix. Irgendwo zwischen Alfred Hitchcock und Volker Schlöndorff. Aber auch das ist keine schlechte Botschaft. Denn „Die Unbekannte“ entwickelt einen eigentümlichen Sog aus Faszination und Widersprüchlichkeit, dem man sich, trotz haarsträubender Story-Wendungen, nicht entziehen kann.

    Und das liegt nicht zuletzt am eindringlichen Spiel der Hauptdarstellerin Xenia Rappaport, die als zunächst namenlose Frau in eine winterliche und ebenso namenlose italienische Stadt kommt. Sie bezieht eine heruntergekommene Absteige, die sie fortan ihre Wohnung nennt und versteckt einen Koffer voller Geld. So weit so mysteriös. Irena, so der Name der nicht mehr Unbekannten, hat es auf das gegenüber liegende Gebäude und seine Bewohner abgesehen. Dort wohnen fast ausschließlich Goldschmiede. Insbesondere die kleine Familie Adacher wird zum Zentrum ihres manischen Interesses. In bruchstückhaften Rückblenden offenbaren sich derweil Irenas Qualen als Zwangsprostituierte – aber auch ihr kurzes Glück mit ihrem Geliebten. Immer verbissener drängt sie sich in das Leben der Adachers. Um als Haushälterin angestellt zu werden, schreckt sie auch nicht davor zurück, die freundliche alte Hausdame der Familie aus dem Weg zu räumen. Ihr Ziel scheint die Tochter der Juweliersfamilie zu sein. Die kleine Thea (Clara Dossena) leidet an einer seltsamen Krankheit, die verhindert, dass sich das Kind schützt, wenn es hinfällt. Doch als sich gerade eine tiefe Bindung zwischen Irena und Thea entwickelt, taucht plötzlich Irenas brutaler Zuhälter Muffa (Michele Placido) auf und zieht alle in einen Sog aus Gewalt und Rache, Habgier und Sadismus.

    Für die acht Millionen Euro teure Umsetzung seiner schon 1987 entstandenen Geschichte verpflichtete Tornatore als Hauptdarstellerin Xenia Rappaport. Diese ist in Russland ein Star und hierzulande wenig bekannt – doch das dürfte sich ändern. Sie zeigt in ihrer Rolle auf faszinierende Weise Irenas tiefe Zerrissenheit zwischen einer gepeinigten Seele und kompromissloser Entschlossenheit. Außerdem gelingt es ihr auch noch, die gröbsten Kitschklippen zu umschiffen. Gerade in den Szenen mit Thea Adacher wirkt ihre kühle Zurückhaltung glaubwürdiger als jeder Gefühlsausbruch. Auch die übrige Besetzung überzeugt. Allen voran Alessandro Haber („Amore Amore“) als schmierig-armseliger Hausmeister und Michele Placido (Der Italiener), der hier auf den Spuren von Dennis Hopper in Blue Velvet wandelt, und den man am besten nicht seiner Mutti als besten Freund präsentiert.

    „Die Unbekannte ist ein Thriller ohne Mörder, Opfer oder Ermittler. Es ist ein Film über die Liebe. […] Er ist ein komplexes und dicht verwobenes Netz aus Gefühlen und Geheimnissen, das sich mir in Gänze erst nach und nach offenbarte, während wir drehten.“ So Regisseur Giuseppe Tornatore („Cinema Paradiso“, „Die Legende vom Ozeanpianisten“) selbst. Die Aussage, dass es keine Mörder gebe, sollte er vor Gericht nicht verteidigen, denn es gibt im Film durchaus ein paar Tote – und die sind nicht an schlechtem Wetter verstorben! Den zweiten Teil des Zitats allerdings sollte man vielleicht als Untertitel auf dem Kinoplakat verewigen. Gegen die Erzählstruktur der „Unbekannten“ wirkt Memento wie eine Folge der „Lindenstraße“. Nicht, dass der Film nicht zu verstehen sei. Das Gegenteil ist eher der Fall: Fast jede Szene ist dermaßen angefüllt mit eindeutiger (symbolischer) Bedeutung und Verweisen in Zukunft und/oder Vergangenheit, dass es fast ans Lächerliche reicht. Beispielhaft hierfür sei die visuelle Gestaltung von Kameramann Fabio Zamarion genannt. Sie ist zwar formal stimmig, aber so subtil wie eine 747 im Tulpenfeld. Graue Farben in der winterlichen Stadt, gelb flirrende Hitzeschleier für die Erinnerungen an Irenas verlorene Liebe und Unschärfe-Filter und hektische Handkamera für die Folterszenen - untermalt durch die Musik von Altmeister Ennio Morricone (Spiel mir das Lied vom Tod). Diese macht den Eindruck, als versuche Morricone verkrampft, Bernard Hermann (Psycho) zu imitieren. Wenn andauernd die Geiger ihre Instrumente mit wilden Stakkato-Strichen malträtieren, nur weil mal ein Schuh aus dem Regal fällt, dann ist das nicht wirklich gruselig. Das hört sich eigentlich nicht nach einem sehenswerten Film an – und dennoch: Tornatore versteht es bei aller Überfrachtung und trotz der ein oder anderen mutigen Storywendung, eine gute und zutiefst traurige Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte über eine Frau, der alles genommen wurde und die sich ein Stück vom Glück zurück erkämpfen will.

    Giuseppe Tornatore hat einen neuen Film gemacht und das ist eine gute Nachricht.

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