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    Hunger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Hunger
    Von Björn Helbig

    Das Her Majesty's Prison Maze nahe Belfast, auch bekannt als Long Kesh oder H-Blocks, diente zwischen 1971 und 2000 als Hochsicherheitsgefängnis für Mitglieder terroristischer Gruppierungen. In diesem Gefängnis sollte auch das IRA-Mitglied Bobby Sands ab 1977 eine 14-jährige Haftstrafe verbüßen. Ihm und seinen Mithäftlingen, ebenfalls IRA-Anhänger, wurde die Einstufung als politische Gefangene verweigert. Nach einem ersten erfolglosen Hungerstreik verweigerten Sands und eine Reihe weiterer Gefangener ab dem 1. März 1981 erneut öffentlichkeitswirksam die Nahrungsaufnahme. Mit „Hunger“ hat Steve McQueen, einer der bedeutendsten Universalkünstler Englands, die realen Geschehnisse aufgegriffen und in seinem ersten Langfilm zu einem eindrucksvollen und vielschichtigen Kunstwerk verarbeitet.

    Der IRA-Aktivist Davey Gillen (Brian Milligan) wird in den H-Block des Maze-Gefängnisses in Nordirland gesperrt. Die Zustände dort sind katastrophal. Wärter wie Raymond Lohan (Stuart Graham) und Gefangene machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle: Die IRA-Häftlinge sehen sich nicht als Kriminelle, sondern als Freiheitskämpfer und fordern die Privilegien politisch Gefangener. Da ihnen diese nicht zuerkannt werden, zetteln sie einen Waschstreik an. Außerdem weigern sie sich, Gefängniskleidung zu tragen und Gefängnisarbeit zu verrichten, weshalb sie die meiste Zeit nackt und nur mit Wolldecken bedeckt in ihren verunreinigten Zellen verbringen. Da lernt Davey den Anführer der IRA-Häftlinge, Bobby Sands (Michael Fassbender, Eden Lake, 300), kennen…

    Dem 1969 in London geborenen Installationskünstler, Fotograf und Regisseur Steve McQueen ist ein außergewöhnlicher Film gelungen. McQueen verfolgte mit seinem Spielfilmdebüt gleich mehrere Ziele: „Ich will zeigen, wie es 1981 im H-Trakt war, zu sehen, zu hören, zu riechen und zu berühren. Was ich darstellen will, ist etwas, was nicht in Büchern oder Archiven zu finden ist, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche.“ So widmet sich das erste Drittel auch ganz den Sinneseindrücken der Protagonisten. Bereits die Einleitung ist brillant: Der stark inszenierte Auftakt zeigt den Wärter Raymond Lohan, großartig gespielt von dem vor allem aus britischen Serien bekannten Stuart Graham, der sich auf seinen Arbeitsalltag im Gefängnis vorbereitet. Er kühlt seine nach einer Schlägerei kaum geheilten Fingerknöchel in einem Waschbecken. Bevor er sich auf den Weg zur Arbeit macht, schaut er misstrauisch die einsame Straße seiner Wohngegend hinab. Aus Angst vor einer Autobombe kann er nicht umhin, auch einen Blick unter seinen Wagen zu werfen. Mit solchen Andeutungen führt McQueen den Zuschauer in das von ständiger Bedrohung dominierte Setting ein, dessen wahrhaftiges Ausmaß allerdings erst – nach und nach – innerhalb der Gefängnismauern deutlich wird.

    Nach der Exposition und der folgenden Vorstellung des H-Blocks, die aus den Augen Davey Gillens heraus geschieht, verlässt der Film erst einmal die persönliche Ebene und führt die Zustände im Gefängnistrakt auf einer abstrakteren Ebene vor: Verunreinigte Zellen, verwahrloste Häftlinge und brutale Gewalt verschmelzen zu einem meist ruhigen, mitunter fiebrigen, aber immer mitreißenden Sinnesstrom, der dem Zuschauer viel abverlangt. McQueens besondere Leistung besteht nicht nur in dem hohen Grad an Authentizität, den er mit seiner akribischen, teils detailversessenen Umsetzung erreicht, sondern auch in einer speziellen Art von Ästhetik, die er selbst in den schmutzigsten Gefängniszellen entdeckt. Die Ästhetisierung dient in keiner Weise dazu, die Geschehnisse zu beschönigen oder gar zu verharmlosen. Sie fungiert vielmehr als Mittel, um zu demonstrieren, dass Menschlichkeit auch unter den schlimmsten Umständen nie vollständig verloren geht.

    „Hunger“ ist mehr als eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Epoche und ihrer politischen Prägung. Der Regisseur greift das Sujet des Körpers als letzte Instanz der Kriegsführung auf und schafft damit auch aktuelle Bezüge zum Thema Selbstmordattentate. Der Film geht damit über die realen Geschehnisse hinaus und offenbart auch auf der Metaebene ausreichend Substanz, die das Publikum zusätzlich zum Nachdenken auffordert. Die Gefangenen im Maze Prison nutzen ihre Körper als finales Mittel des Protests gegen die dramatischen Umstände. McQueen gelingt das Kunststück, seinen Film aus zwei völlig gleichberechtigten Perspektiven zu erzählen: Auf der einen Seite stehen die Häftlinge, die den Status von politischen Gefangenen einfordern und bereit sind, dafür alles einzusetzen, was sie noch haben: ihr Leben. Auf der anderen Seite steht das Gefängnispersonal, das - von der Politik im Stich gelassen und zunehmend verbittert – förmlich in die Radikalität gedrängt wird. Der Regisseur ergreift nicht Partei, sondern lässt die unterschiedlichen Perspektiven ohne Auflösung nebeneinander stehen. Für den Zuschauer ist es nicht immer leicht, diesen Schwebezustand auszuhalten, der trotz schmerzhafter Ausschläge in die eine oder andere Richtung konsequent aufrecht erhalten bleibt.

    „Mein Leben in die Waagschale zu werfen, ist nicht nur das Einzige, was ich tun kann – es ist das Richtige“ - Bobby Sands

    Letztlich sind es nicht die aufgestauten Emotionen, sondern allein die Ratio, die den finalen Akt des Hungerstreiks einläutet: Seinen intellektuellen Höhepunkt erreicht „Hunger“ bei dem mehr als 20 Minuten langen Diskurs zwischen Bobby Sands und dem katholischen Geistlichen Pater Dominic Moran (wahnsinnig gut: Liam Cunningham, The Wind That Shakes The Barley). Das anfangs noch humorvolle Gespräch steigert sich zu einem philosophischen Ringen um das Wesen der Selbstaufopferung. Der scharfzüngige Disput verlangt dem Zuschauer einiges an Konzentration ab, bietet aber auch viele Argumente für und wider den geplanten Hungerstreik sowie einen Einblick in die Motive des IRA-Anführers. Kurz erhascht man sogar einen Blick auf Sands' Innenwelt. Wie der Zuschauer zu all dem steht, bleibt letztlich ihm selbst überlassen. Dass das Publikum aber kaum darum herumkommt, sich mit den diskutierten Fragen auseinanderzusetzen, steht bei der tiefgründigen Eleganz, mit der McQueen den Dialog arrangiert, aber außer Frage.

    Das letzte Drittel von „Hunger“ steht dann ganz im Zeichen des Sterbens. Die IRA-Gefangenen entschließen sich erneut zu einem Hungerstreik. Nachdem der Film zuvor die im H-Block herrschenden Mechanismen ins Visier genommen und daraufhin auf einer sprachlich-logischen Ebene die Argumente offen gelegt hat, richtet sich der Fokus schließlich ganz auf Bobby Sands und dessen letzten Tage. Sands wird von Stunde zu Stunde schwächer, bis er irgendwann nicht einmal mehr selbst aufstehen kann. Diese Momente gestalten sich auch für den Zuschauer äußerst qualvoll und sind nicht weniger schwer zu ertragen wie die vorangegangenen Gewaltszenen. Am 5. Mai 1981 starb Bobby Sands an Unterernährung im Gefängniskrankenhaus. Sein Martyrium dauerte 66 Tage. Ihm folgten noch neun weitere Häftlinge, bevor der Hungerstreik am 3. Oktober 1981 von der IRA offiziell abgebrochen wurde. Ein Großteil der Forderungen der IRA-Häftlinge wurde in der Folgezeit erfüllt. Als politische Gefangene wurden sie allerdings nie offiziell anerkannt.

    Fazit: Steve McQueens kunstvolles Werk widersetzt sich erzählerischen und filmischen Konventionen. Der facettenreiche, akustisch wie visuell vereinnahmende Film rückt mal die Gefängnisatmosphäre, mal den intellektuellen Diskurs und mal das individuelle Leiden in den Vordergrund. Brüllend laute Szenen stehen direkt neben ruhigen Momenten. Dank dieses polyzentrischen Aufbaus erreicht McQueen ein Maximum an Wirkung, ohne dabei auf ein homogenes, kraftvolles Ganzes zu verzichten.

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