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    Lost and Found
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Lost and Found
    Von Nicole Kühn

    Europa wächst zusammen und dehnt sich zurzeit vor allem in Richtung Osten aus. Außer politischen Querelen und kriegerischen Auseinandersetzungen wird das Bild der gesamten Region im Westen vor allem durch Klischees geprägt. Die Osteuropäer trinken gut und gerne, praktizieren das Darwin’sche Prinzip der Macht des Stärkeren und sind raubeinige Ganoven mit großer krimineller Energie. Wirtschaftlich liegen die neuen Europäer meist noch weit zurück. Unter diesen Umständen Beachtliches tut sich im kulturellen Bereich. Eine sehr engagierte und zukunftsorientierte Riege junger Künstler entwickelt auf der Basis stilprägender Traditionen neue, selbstbewusste Formen des Blicks auf das eigene Land. Um diese zarten Triebe zu unterstützen und Kooperationen zwischen Ost- und Westeuropa zu forcieren, initiierte Nikolaj Nikitin zusammen mit der Kölner ICON FILM Produktion das Gemeinschaftsprojekt „Lost And Found“, das auf dem Wiesbadener Festival goEast seine Premiere feierte. Herausgekommen ist ein facettenreicher Bilderbogen, der ganz andere Seiten des „Wilden Ostens“ zeigt.

    „Das Ritual“, Spielfilm (Bulgarien):

    Regie: Nadejda Koseva, Buch: Georgi Gospodinov, Kamera: Radoslav Spasov, Darsteller: Svetlana Yancheva, Krasimir Dokov, Anna Broquet, Ivan Yurukov

    In einem bulgarischen Dorf wird eine feierliche Hochzeit vorbereitet. Im Garten ist eine riesige Festtafel vorbereitet, nach und nach treffen die Gäste ein, Wiedersehensfreude macht sich in aufgeregtem Geschnatter bemerkbar. Die Eltern sind sichtlich nervös am großen Tag ihres Sohnes. Doch hat sich den schönsten Tag seines Lebens mit seiner Zukünftigen etwas anders vorgestellt als der Rest der Verwandtschaft. Solchen Situationen muss man kreativ begegnen… Die 1974 geborene Regisseurin Nadejda Koseva braucht nur eine exemplarische Situation, um das zerrissene und doch keineswegs hoffnungslose Lebensgefühl ihrer Heimat zu beschreiben. Sie selbst hat Erfahrungen im westlichen Ausland gesammelt und steht damit für das Interesse an und die Öffnung zum Westen. Für die ältere Generation dagegen scheint die Globalisierung kaum stattgefunden zu haben. Doch diese unterschiedlichen Einstellungen müssen nicht in Unverständnis füreinander münden. Diese schöne Erkenntnis transportiert der Film in einer rhythmisch gut erzählten Geschichte, die vom Blick nach vorn getragen ist.

    „Das Mädchen und der Truthahn“, Spielfilm (Rumänien):

    Regie: Cristian Mungiu, Buch: Cristian Mungiu, Kamera: Oleg Mutu, Darsteller: Ana Ularu, Valentin Popescu, Dan Burghelea

    Tatjana lebt auf einem abgeschiedenen Bauernhof in Rumänien und dressiert mit kindlicher Hingabe ihren Truthahn. Die große Herausforderung für das scheue Mädchen kommt, als es die schwerkranke Mutter im Krankenhaus in Bukarest besuchen und eine notwendige Behandlung erwirken soll. Als letztes Mittel bekommt sie den Truthahn mit auf den Weg – schließlich ist ein solcher Braten auch für einen Arzt eine Delikatesse, und jeder ist käuflich. Für Tatjana beginnt eine wundersame Reise mit vielen Unbekannten... Cristian Mungiu verdiente sich bisher viele Meriten als Drehbuchautor, unter anderem als Co-Autor für Dennis Hoppers „Gangster“. Internationale Erfahrung als Regie-Assistent sammelte er bei verschiedenen internationalen Produktionen in Rumänien. Mit seinem lakonischen Stil, der in klaren Bildern surreale Begebenheiten als Normalität erzählt, begeistert er seine Landsleute. Mit seinem Kurzfilm „Mina Lui Paulista“ heimste er 1998 den Studenten-Oscar ein und zog 2003 mit seinem Leinwanddebüt „Occident“ 50.000 Besucher in die Kinos, die sonst selbst Blockbustern nur bis 30.000 Fans gönnen. Seine Tatjana wandelt wie ein Mensch vom anderen Stern durch die Hauptstadt ihrer Heimat und verkörpert damit das Gefühl einer Generation, die sich im eignen Land mit den turbulenten und rasanten Entwicklungen zuweilen fremd fühlt.

    „Der Geburtstag“, Dokumentarfilm (Bosnien-Herzegowina)

    Regie: Jasmila Zbanic, Buch: Jasmila Zbanic, Kamera: Christina A. Maier

    Dunja und Ines leben in Mostar, beide sind zehn Jahre alt und gehen zur Schule. Sie haben noch nie etwas voneinander gehört, denn sie leben in verschiedenen Stadtteilen, die durch den Fluß Neretva getrennt werden. Die Brücke, die früher den (Fluss)Graben überwand, ist seit dem Krieg zerstört. Doch im Sommer 2004 soll sie wieder feierlich eröffnet werden... Einfühlsam und unaufdringlich fängt Jasmila Zbanic Situationen aus dem Alltag zweier junger Menschen ein, die in eine von Zerstörung geprägte Welt hineingeboren wurden. Ohne den Krieg wirklich explizit zu machen, zeigt die Dokumentation, wie tief dessen Folgen in das Leben auch derjenigen eindringen, die noch nicht einmal verstehen können, welches Ziel die Auseinandersetzungen verfolgten. Die 1974 in Sarajevo geborene Zbanic weiß, wovon sie spricht und hat ihre eigenen Erfahrungen in vielfältigen künstlerischen Formen von der Clownerie bis hin zum Theater verarbeitet. Heute leitet sie die von ihr gegründete Künstlervereinigung „Deblokada“ in Sarajevo. Das besonders für die ganz junge Generation diffuse Gefühl der Eingeschränktheit durch die Folgen des jahrelangen Krieges in ihrer Heimat macht „Geburtstag“ gut sichtbar ohne Gelegenheit und Raum genug zu geben, sich in die Protagonisten hineinversetzen zu können.

    „Ein kurzer Moment der Stille“, Spielfilm (Ungarn)

    Regie: Kornél Mundruzcó, Buch: Kornél Mundruzcó, Viktória Petrányi, Kamera: András Nagy, Darsteller: Orsolya Tóth, Zsolt Trill

    Der Tod der Mutter ist Anlass für ein Geschwisterpaar, sich im Elternhaus nach langer Zeit wieder zu sehen. Zwischen der fast Furcht erregend stillen Frau und dem Berater für Selbstmordgefährdete baut sich langsam aber unausweichlich eine emotionsgeladene Spannung auf, die sich in einer mit Wucht zurückkehrenden Vergangenheit entlädt... In düsteren Bildern eines ungelösten Familienkonflikts spiegelt der 1975 in Ungarn geborene Regisseur Kornél Mundruzcó die Situation des zusammenwachsenden Europa. Besonders die neu dazugekommenen Länder im Osten tragen noch an Narben aus der Vergangenheit, während der westliche Teil sich nach wie vor an der Abarbeitung schwer tut. Die Sprachlosigkeit der Geschwister liest sich wie die Kehrseite des babylonischen Sprachgewirrs in der EU: Lösungsorientierte Kommunikation scheint kaum möglich. Ein bedrückender Zustandsbericht

    „Wunderbare Vera“, Spielfilm (Serbien-Montenegro)

    Regie: Stefan Arsenijevic, Buch: Stefan Arsenijevic, Kamera: Aleksander Ilic, Darsteller: Milena Dravic, Radivoj Knezevic, Nikola Simic, Milica Mihajlovic

    Veras Wege und Lebensrhythmus wird fremdbestimmt: von der Straßenbahn, in der sie als Kontrolleurin arbeitet und über deren Kabinen ihr Horizont kaum hinausgeht. Nicht, dass sie dumm wäre, sie hat lediglich jede Erwartung an ihr Leben an acta gelegt. Nicht so ihre Tochter. Die will ihrem neuen Freund ins Ausland folgen, wo sie auf Perspektiven für sich und ihre Zukunft hofft. Die Entschlossenheit ihrer Tochter bringt Vera völlig aus dem Konzept. Schnell zeigt sich, woher Töchterchen diesen Charakterzug her hat: Vera nimmt kurzerhand das Steuer in die Hand und steuert direkt auf einen todesmutigen Polizisten zu... Mit skurrilem Humor lässt der aus Belgrad stammende Stefan Arsenijevic zwei Generationen und mit ihnen zwei Lebensentwürfe aufeinander prallen. Obwohl sich Mutter und Tochter gegenseitig in ihren Haltungen keineswegs verstehen haben sie Verständnis dafür, dass jeder seinen eigenen Weg in die Zukunft finden muss. Mit den festgelegten Spuren der Straßenbahn findet der Regisseur und Drehbuchautor ein wunderbares Bild für einen Lebenslauf, an dem nichts Unerwartetes mehr kommen zu können scheint. Ein anrührendes, erheiterndes Plädoyer für immer mal wieder was Neues auf sich zukommen lassen.

    „Gene+Ratio“, Animationsspielfilm (Estland)

    Regie: Mait Laas, Buch: Mait Laas, Kamera: Ragnar Neljandi, Darsteller: Krõõ Juurak, Lii Unt, Mait Malmsten, Katariina Lauk, Joel Volkov

    Eine Frau bekommt ein Kind. Wie durch Gedankenübertragung erlebt ihr abwesender Ehemann den Prozess mit und wird auf eine phantastische Reise geschickt, in der Traumbilder ein Eigenleben entwickeln und kosmische Größen sich enorm relativieren... Der 1970 in Tallinn geborene Mait Laas spielt mit Formen und Abläufen, die sich der rationellen Logik entziehen. Sein Filmtitel ist programmatisch, indem er das Wort Generation an einer Stelle spaltet, die zwei neue sinnstiftende Wörter hinterlässt. Gene als Grundlage des Lebens, die jedoch für sich noch kein bewusstes Leben ergeben, und Ratio als die Fähigkeit, die den Menschen (angeblich) vom Tier unterscheidet. Seine Bildkompositionen drücken den blinden Fleck aus, der für den Menschen zwischen seinem Wissen und seinem Sein immer bleibt: Das Leben bleibt unergründbar, und das ist vielleicht auch gut so.

    Die sechs Kurzfilme sind durch den roten Faden des Stichwortes „Generation“ lose miteinander verbunden. Dass die Autoren und Regisseure sich bereits in der Entwicklungsphase trafen, um die einzelnen Storys zu einem kompletten Film zusammen zu führen, bleibt dem unvorbereiteten Zuschauer allerdings verborgen. Zu unterschiedlich sind die Inhalte und Formen, die über die Leinwand laufen. Ein Mangel ist das nur für den Kinogänger, der einen in sich geschlossenen Film erwartet und gleichzeitig symbolisch zu verstehen für den Zustand Europas. Gerade die Vielfalt in Stil und Story ist es, die das Projekt zu interessant macht. Es zeigt, dass das, was zur EU hinzugekommen ist, nicht DER Osten ist, sondern dass hier Länder mit je eigenen Traditionen und Historien sind, die sich nicht ohne weiteres über einen Kamm scheren lassen. Das Kaleidoskop, das „Lost And Found - Six Glances At A Generation“ entwirft, verweist vor allem darauf, dass mit jeder Bewegung ein völlig anderes Bild entstehen kann. Die Neugier der jungen Generation in osteuropäischen Ländern auf das Neue, Unvorhersehbare überträgt sich durch dieses Projekt und macht trotz gewisser Gewöhnungsbedürftigkeit Appetit auf mehr.

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