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    Der Wind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Wind
    Von Jörn Schulz

    Buenos Aires als Schauplatz für Kinofilme liegt im Trend. Das jedenfalls lässt sich konstatieren, wenn man auf einige Filmstarts aus Südamerika in der letzten Zeit zurückschaut. So spielt die argentinische Hauptstadt unter anderem in Avi Lewis' und Naomi Kleins Dokumentation The Take - Die Übernahme, in Edgardo Cozarinskys Schwulendrama Der Nachtschwärmer und in Ariel Rotters Adoleszenzdrama „B. Aires“ eine tragende Rolle. Auch das minimalistische aber äußerst gefühlsstarke Familiendrama „Der Wind“ von Regisseur und Drehbuchautor Eduardo Mignogna ist in Buenos Aires angesiedelt, was die perfekte Szenerie für das Aufeinandertreffen von zwei sehr unterschiedlichen Charakteren bildet: Der Großvater vom Lande besucht die Enkelin in der Stadt. Zwei Generationen, zwei Lebensräume, eine Familie. In schönen und ruhigen Bildern wird eine leicht zugängliche Familiengeschichte erzählt, die berührt und in Erinnerung bleibt, weil wieder einmal bewiesen wird, dass weniger oft mehr ist.

    Eigentlich könnte Alina Osorio (Antonella Costa) glücklich sein. Sie ist Ärztin an einem Krankenhaus in Buenos Aires, hat ein sicheres Einkommen und einen liebevollen Freund namens Diego (Esteban Meloni). Doch die 28-Jährige wirkt immerzu traurig, denn etwas lastet seit ihrer frühesten Kindheit auf ihrer Seele: Sie weiß nicht, wer ihr leiblicher Vater ist. Eines Tages taucht unangekündigt ihr Großvater, José „Frank“ Osorio (Federico Luppi), vom Land auf, um eine kummervolle Nachricht zu überbringen: Ihre Mutter, Ema Osorio, ist verstorben und hat so scheinbar das Geheimnis der Identität von Alinas Vater mit ins Grab genommen. Frank will sie trösten, ihr helfen, doch die Enkelin blockt ab, da sie seit Jahren kein gutes Verhältnis mit dem Großvater pflegt. Innerhalb mehrerer Tage jedoch versucht Frank die Kluft zwischen sich und Alina zu überwinden und Annäherung zu finden. Als er meint, Alinas Vertrauen halbwegs gewonnen zu haben, entscheidet er sich, seiner Enkelin das Geheimnis ihres Vaters zu offenbaren und sich damit selbst für eine vor vielen Jahren begangene Tat schuldig zu sprechen. Doch nichts ist, wie es anfangs scheint...

    Es ist, als hätte Regisseur Eduardo Mignogna seine Geschichte von allem freihalten wollen, was sich der Entwicklung von Franks und Alinas Beziehung störend hätte in den Weg stellen können. Die Reduktion auf wenige Charaktere im Film, der relativ simple Plot, der anfangs leicht durchschau- und berechenbar scheint und die einfach aber direkt wirkenden Bilder ergeben einen nährstoffreichen Boden für die emotionale Entfaltung des Verhältnisses zwischen Großvater und Enkelin. Der Minimalismus ermöglicht eine Fokussierung auf die so gegensätzlich wirkenden Charaktere, was zusammen mit den bestechenden schauspielerischen Leistungen von Antonella Costa (Die Reise des jungen Che) und Federico Luppi („Machuca, mein Freund“) ein äußerst realistisch wirkendes Ganzes bildet. Die Figuren erscheinen zu keinem Zeitpunkt gekünstelt, sondern durchweg natürlich, einfach menschlich. Obwohl beide Protagonisten sichtlich sparsam im Äußern von Emotionen vorgehen, lassen sie dennoch einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt der Charaktere zu, ermöglichen große Empathiemomente, was deutlich näher am Leben vieler Menschen ist als überspitzte emotionale Ausbrüche. Ein Paradebeispiel für die überzeugende Charakterisierung von Protagonisten, denen trotz der spärlichen Mittel die Komplexität nicht abhanden kommt.

    Ähnlich wie im neuseeländischen Drama Als das Meer verschwand von Brad McGann und im spanischen Frauendrama Volver von Pedro Almodovar geht es auch in „Der Wind“ um den Umstand, wie sich Familiengeschichte wiederholen und die nächsten Generationen beeinflussen kann, wenn sie im Stillen verborgen bleibt. Im spanisch-argentinischen Drama geht es jedoch auch um die Entfremdung von Stadt- und Landbevölkerung. Teils witzig wie in „Crocodile Dundee“ dargestellt, teils melancholisch umgesetzt, wird der alte Landkauz Frank beim Zurechtfinden in der Großstadt Buenos Aires gezeigt. Weitere Motive des Films sind die Identitätssuche Alinas und das dadurch hervorgerufene Gefühl der Entwurzelung. Indem Alina sich in einen älteren, verheirateten Arzt verliebt und somit eine zum Scheitern verurteilte Beziehung thematisiert wird, schließt sich der Kreislauf der Familiegeschichte. Die Frage nach Schuld und Gerechtigkeit gibt dem Drama eine moralische Dimension, die zum Nachdenken anregt. Durch das Ineinandergreifen der verschiedenen Themen wirkt der Film vielschichtig und eine universale Geschichte erzählend.

    Leicht zugänglich und dennoch komplex, still und trotzdem sehr gefühlvoll, melancholisch und gleichwohl aufrüttelnd – so lässt sich der Film zusammenfassen. „Der Wind“, der im spanischen Original mit deutschen Untertiteln ins Kino kommt und an dem Regisseur Eduardo Mignogna nach eigenen Angaben seit 64 Jahren gearbeitet hat, ist eine intensive Auseinandersetzung mit Familiengeschichte, die in Erinnerung bleibt.

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