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    Gib mich die Kirsche
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Gib mich die Kirsche
    Von Björn Becher

    2006 ist das Fußballjahr. Die so euphorisch verlaufene Fußball-WM im Sommer hat auch dem Dokumentarfilm zum Thema „Fußball“ einen spürbaren Aufschwung beschert. Fußballgöttinnen widmete sich Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise (Spieler, Fan, Trainer, Platzwart) mit dem runden Leder beschäftigen. Im Herbst wird Sönke Wortmann dann seine heiß erwartete WM-Doku Deutschland. Ein Sommermärchen in die Kinos bringen und hat damit gute Chancen, einen neuen Besucherrekord für einen deutschsprachigen Dokumentarfilm aufzustellen. Und dazwischen gab es auch noch „Gib mich die Kirsche! - Die 1. deutsche Fußballrolle“, der immerhin rund 2.500 Zuschauer in die Kinos lockte und in der Nach-WM-Phase auch auf DVD noch den ein oder anderen Abnehmer finden dürfte. Verdient hätte es die sehenswerte Dokumentation von Oliver Gieth und Peter Hüls, die sich auf amüsante Weise einer großen Dekade der deutschen Fußballgeschichte nähern, auf jeden Fall.

    Von der Gründung der Fußballbundesliga im Jahr 1963 bis hin zum deutschen WM-Titel 1974 erstreckt sich ihr Film, für dessen Produktion sie über zehn Jahre gebraucht und über tausend Filmbeiträge gesichtet haben. Diesen immensen Arbeitsaufwand merkt man dem fertigen Film auch absolut an. Gieth und Hüls verzichten auf einen Off-Kommentar und beschränken sich darauf, ihre Filmschnipsel für sich sprechen zu lassen. Ihre große Leistung besteht in der Auswahl dieser Ausschnitte, dem gelungenen Arrangement und der treffenden Musikauswahl (deutsche Fußballschlager). Erstaunlicher-, aber auch erfreulicherweise ist die Mehrheit der Beiträge keine Wiederholung altbekannter Spielszenen, sondern stammt aus TV-Reportagen und –Dokumentationen jener Zeit, in welchen Prozesse in der Entwicklung des Fußballs beleuchtet werden. So gibt es zu Beginn einen Beitrag, der der Frage nachgeht, ob Fußballspieler überhaupt Geld verdienen dürfen, ob es den Kickern noch Spaß machen würde, gegen das runde Leder zu treten, wenn es nun keine Vergnügen, sondern aufgrund der Bezahlung eine Pflicht wäre. Später werden kontroverse Meinungen von Vertretern der freien Marktwirtschaft auf der einen Seite und des DFB für eine strikte Gehaltsbegrenzung auf der anderen Seite aufgezeigt. Anhand solcher Beiträge, deren Aufzählung sich hier noch lange fortsetzen ließe, gelingt es Gieth und Hüls, den Wandel des Fußballs nachzuzeichnen.

    Ihre Herangehensweise ist dabei aber weniger dokumentarisch, als man zunächst glauben mag. Im Vordergrund stehen hier ganz klar das Komödiantische, das Amüsante und die Anekdoten. So ersetzt „Gib mich die Kirsche“ auch weder Statistik noch Chronik, sondern liefert einen ganz eigenen Blick auf das Fußballgeschehen. Da kommen auch der Hobbykicker und die Diskussionen am Stammtisch nicht zu kurz. Die Auswahl der Beiträge ist größtenteils exzellent. Natürlich gibt es Altbekanntes, wie das berühmte Beckenbauer-Statement, er werde später nichts mehr mit Fußball zu tun haben, die oft gesehenen Bilder, welche Uwe Seeler bei seinem Hauptberuf als Sportartikelvertreter begleiten oder die legendäre Selbsteinwechslung von Günther Netzer bei seinem letzten Spiel für Mönchengladbach im DFB-Pokalfinale. Obwohl vom Fan schon hunderte Male gesehen, würde ein Fehlen dieser Szenen aber wohl trotzdem sehr schmerzen. Viel wichtiger und interessanter sind aber die aus den tiefsten Archiven ausgegrabenen Reportagen, Spielszenen und O-Töne. Die Trainer-O-Töne stammen dabei direkt von der Trainerbank am Spielfeldrand und sind in einer der besten Szenenfolgen des Films mit einem Vortrag über die Talente, die es braucht, um ein guter Trainer zu sein, gegeneinander geschnitten. Wer sich hierbei nicht köstlich amüsiert, dürfte auch ansonsten null Interesse am Fußball haben.

    Obwohl „Gib mich die Kirsche“ eine Liebeserklärung an den Fußball ist, scheuen sich die beiden Macher nicht, auch den dunklen Seiten jener Epoche Platz einzuräumen. Sowohl der Bundesligaskandal Anfang der Siebziger, wie auch die kurz danach aufkommende Hooliganszene finden ihren Platz, werden dabei aber nur so weitgehend behandelt, dass es dem Feel-Good-Charakter des Films nicht den Wind aus den Segeln nimmt. Der DDR-Fußball wird ebenfalls leicht gestreift. Anhand von einer Reportage, die anlässlich eines Europapokalspiels von Bayern München gegen Dynamo Dresden entstand, werden die krassen finanziellen Unterschiede bei den Einkünften der Spieler beider Teams aufgezeigt. So berichtet Jürgen Kreische, dass er 580 – 700 Mark im Monat verdient und es noch eine Jahresendprämie gibt, die vom Erfolg abhängt - im letzten Jahr waren dies Dank Meisterschaft 1000 Mark. Während die Bayern-Spieler dicke Autos fahren, wohnt Kreische daher mit Familie in einer spärlichen Drei-Zimmer-Wohnung.

    „Gib mich die Kirsche“ ist kein Film, mit dem man sich ein umfassendes Bild jener Epoche machen kann, für einen ersten Eindruck für Neueinsteiger würde er hingegen auf jeden Fall taugen. Das richtige Zielpublikum findet der Film aber woanders. Fußballbegeisterte, die jene Zeit noch hautnah miterlebt haben, oder sich für diese Dekade interessieren, bekommen einen amüsanten, nostalgischen, wenn auch positiv verklärten Rückblick serviert, den sie sich nicht entgehen lassen sollten. Man sollte sich dabei aber immer bewusst sein, dass es sich nun einmal um eine Huldigung handelt. Denn obwohl die Autoren ihr Werk dem legendären Schalker und Dortmunder Stürmer Stan Libuda sowie dem Lauterer Weltmeister von `54 Werner Kohlmeyer und damit den zwei Personen, die wie kaum andere für die Probleme nach der Fußballkarriere stehen, gewidmet haben, finden sich im Film nur ihre Heldentaten wieder. Die dunkleren Zeiten haben in dieser Liebeserklärung an den Fußball einfach keinen Platz.

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