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    Mañana al mar
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Mañana al mar
    Von Andreas R. Becker

    So vieler gesellschaftlicher Tabus hat sich der Film im Laufe seiner Geschichte bemächtigt, dass kaum noch etwas übrig geblieben ist, an dem öffentlich Anstoß genommen wird. Sexszenen haben sich selbst in Actionfilmen einen festen Platz erobert, gelegentlich schreit noch einmal die Kirche auf Seite drei angesichts einer Dan-Brown-Verfilmung auf, aber die Zeit der großen Schlagzeilen scheint doch im Wesentlichen vorbei. Was aber nicht heißt, dass alles gezeigt wurde, das die Menschen so umtreibt. Zum Beispiel der leise, der natürliche Tod. Zumindest wenn es um den Mittelpunkt des kommerziellen Spielfilms geht, ist von Altwerden, von Krankheit und Sterben nicht viel zu sehen. Filme wie About Schmidt oder Million Dollar Baby, die dieses Thema ernst nehmen und nicht in Nebenrollen verbannen, sind eher eine Seltenheit, bilden sie doch keine schönen Paare mit Unterwäschereklame, Anti-Aging-Creme und Botoxspritzen. Mit digitaler Kamera und viel Geduld gewappnet, hat sich die deutsche Regisseurin Ines Thomsen („Spielgefährten“) in „Mañana Al Mar“ diesem Thema gewidmet, und ihren Protagonisten einen liebevollen Dokumentarfilm. Am winterlichen Strand von Barcelona hat sie eine Gruppe von Rentnern begleitet, die am Ende ihres Lebens auf ungewöhnliche Weise der Einsamkeit und ihren verfallenden Körpern hartnäckig und hartgesotten ins Gesicht lachen.

    Paulina ist 76, gehbehindert und lebt alleine, seit Mitte der 80er Jahre ihr Mann starb. Trotz eines von viel Lebenserfahrung geprägtem Pragmatismus trägt sie ihn jedoch seit zwei Jahrzehnten in tiefer Liebe in ihrem Herzen, wenn sie ihren Stock in den Sand steckt und sich singend in die eiskalten Fluten begibt. Als sie aus dem Wasser kommt, trifft sie den drahtigen Josep, der sie mit seinen ganzen 87 Erdenjahren fast noch als jungen Hüpfer betrachtet. Er läuft im Winter, mit nicht mehr als einer Badehose bekleidet, den Strand kilometerweit aus Freude hinauf und hinab, um sich fit zu halten auch, und hat nicht nur ein oder zwei kuriose Geschichten auf Lager. Voller Respekt hört man ihm zu, wenn er im Angesicht gerade überstandener Krankheit von Würmern spricht, die sich durch seinen Schädel fressen werden, davon, dass er seinen Frieden mit der Welt bereits gemacht hat und trotzdem jeden Tag in vollen Zügen in sich aufzusaugen weiß. Mit Zement und unerschütterlicher Beharrlichkeit hat sich Antonio, 83, einen Hochsitz auf die Felsen am Meer gegossen und baut ihn immer wieder auf, wenn die Behörden ihn einreißen. Dort sitzt er, blickt auf die glitzernden blauen Fluten und verdient sich mit Massagen bei Freundinnen den einen oder anderen Euro dazu. Doch diesen Sommer bleiben die Kundinnen aus, immer wieder erzählt Paulina von Beerdigungen. Auch der lebensfrohe und vor Trotz trotzende Josep bleibt plötzlich ungeahnt dem Strand fern – nie weiß der Zuschauer, was gerade passiert sein könnte.

    Und Thomsen verrät es uns auch nicht: Über die vollen 86 Minuten gibt es keine Voice-Overs, Einblendungen oder sonstig Erklärendes, sie lässt nur ihre Protagonisten sprechen und das Meer. In zurückhaltender und respektvoller Beobachtung nähert sie sich diesen beiden Wundern der Natur, ohne dabei distanziert oder unterkühlt zu wirken. So wurde, wie auf alle künstlich eingefügten Elemente, die emotional manipulierend wirken könnten, auch auf den Einsatz von zusätzlicher Musik, vollständig verzichtet: Lediglich die Hymne des „Schwimmvereins Barcelona“ scheppert von einer zerkratzten Platte in beruhigender Regelmäßigkeit über die Lautsprecheranlage des Strandes. Wie das Meer, wie die Rentner selbst, wie die Rückblicke in Fotos und Gesprächen auf Hochzeit und große Liebe, strahlt auch diese nostalgische Musik eine gewisse Wehmütigkeit aus. Schlussendlich lassen sie jedoch alle keinen Zweifel daran, dass das Leben so ewig ist, wie die im Frühling an den wärmenden Sonnenstrand zurückkehrenden Menschen in bunter Badekleidung, so ewig wie Ebbe und Flut des Meeres. Man sieht sich – „Morgen am Meer“.

    Trotz der für kleinere, digital gedrehte Produktionen typischen, leider etwas matschigen Totalen und Weiten ist „Mañana Al Mar“ schön anzusehen und lädt stellenweise, beim Anblick des Meeres oder eines über den Sand kletternden Krebses, schon fast zu meditativer Entspannung ein. Sicherlich beabsichtigt und durch das Thema vorgegeben ist es auch eine logische Konsequenz, dass die Doku nicht spannend im klassischen Sinne ist und auch nicht sein darf. Mit dem vorgegebenen Material wurden auch durchaus einige bescheidene Spannungsbögen implementiert, die den Zuschauer bei der Stange halten. Letzteres geschieht natürlich in erster Linie durch die schiere Faszination, welche von den Menschen ausgeht, die mit ihrem bewundernswerten Lebenswillen die Mitte des Films ausmachen. So ist es vielleicht schlicht das Sujet selbst, das einer dramaturgischen Ausarbeitung auf voller Spielfilmlänge nicht gewachsen ist und den Zugang zu Bestnoten leider versperrt.

    Nichtsdestotrotz: „Mañana Al Mar“ ist ein Lobgesang in leisen, auch humorvollen, Tönen auf das zu Ende gehende Leben. Einer, der trotz der Wehmut ob vergänglicher Jugend nicht hoffnungslos stimmt und uns erklärt, dass es auch, aber beileibe nicht nur die oft zitierten Erinnerungen sind, die das Alter lebenswert machen. Thomsen zeigt uns den Widerspruch zwischen der Endlichkeit des individuellen, und der Unendlichkeit des Lebens als solchem und dass man sich, auch ohne sie zu verdrängen, von dieser Tatsache nicht ins Boxhorn jagen lassen muss. Josep & Co. leben es eindrucksvoll vor: „Das ist normal.“

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