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    Tailor-Made Dreams
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tailor-Made Dreams
    Von Jörn Schulz

    Es ist in der Tat faszinierend, aus welch abstrus wirkenden Geschichten sich interessante Filme produzieren lassen. Das neueste Werk des Berliner Regisseurs Marco Wilms, der mit seiner beindruckenden Dokumentation über Berliner Hausbesetzerprojekte in der Nachwendezeit („Mittendrin“) größere Bekanntheit erlangt hat, ist so ein Beispiel. Auf den ersten Blick zumindest klingt das Motiv von „Tailor-Made Dreams – Maßgeschneiderte Träume“ doch äußerst absonderlich: Ein in Bangkok lebender, pakistanischer Schneider besucht in Europa seine alten Kunden, wird dabei mit der Kamera begleitet und erfüllt sich damit einen Lebenstraum – einmal Star eines Films zu sein. Auch wenn sich das Projekt sehr merkwürdig anhört: Es zieht den Zuschauer schon nach wenigen Minuten in seinen Bann, denn ganz schnell wird klar, dass der Regisseur mit diesem Film die Grenzen der Dokumentation erweitert. Wer zudem noch Bollywood-Filme mag, hat mit diesem bunten Mix aus Dokumentation und Spielfilmelementen seine wahre Freude.

    Für Issar M. ist das Leben nie ein Zuckerschlecken gewesen: Schon als 8-jähriger Junge musste er sich als Verkäufer von Kämmen und Seife verdingen, um dabei behilflich zu sein, die Familie zu ernähren. Später erlernte er das Schneiderhandwerk und baute sich ein kleines Geschäft auf, in das heute Kunden aus der ganzen Welt strömen, um Issars Dienste in Anspruch zu nehmen. Dennoch: Er musste sein gesamtes Leben schuften und trauert nun, mit 66 Jahren, um die seiner Ansicht nach verschwendete Lebenszeit. Sein größter Wunsch war es immer, einmal ein Star in einem Bollywood-Film zu sein wie sein Idol Shammi Kapoor im indischen Kultfilm „Sangam“, der in Europa spielt. Als einer seiner Kunden, der Berliner Regisseur Marco Wilms, von diesem Wunsch erfuhr und sah, wie viel Potential hinter der Geschichte steckt, war der Anfang zur Erfüllung von Issars Traum gemacht. Zusammen machen sich Regisseur und Schneider auf den Weg nach Europa, um dort zum einen alte Kunden Issars zu besuchen und neue Aufträge einzuholen und zum anderen in die Schweiz zu reisen, wo einst Issars Idol weilte. Von der Europareise, den interessanten Begegnungen und die Transformation des tapferen Schneiderleins zum Filmstar handelt „Tailor-Made Dreams“.

    Gleich zu Beginn des Films lernt man Issar, den Schneider kennen und fragt sich, ob es eine gute Idee war, den sichtlich alten, gebrechlichen und langsam wirkenden Mann als Protagonisten einzusetzen. Doch schon nachdem die ersten Filmminuten vorüber sind, beginnt man den älteren Herrn aus dem Schneidergewerbe überaus sympathisch zu finden und ihn ins Herz zu schließen. Lebensfreude und Vitalität funkeln in seinen Augen – auch wenn er diese nach einer Bypass-Operation nicht mehr ganz so agil umsetzen kann. Seinen Traum, ein Bollywood-Star zu werden und möglichst vielen Frauen den Kopf zu verdrehen, hat er fest im Visier. In traumähnlichen Szenen, die in den Film gestreut wurden, erreicht Issar sein Ziel während der gesamten Reise immer wieder.

    Großes Lob an die Form! Bei der Umsetzung und Inszenierung dieses Traums während der Europareise bedient sich Wilms einer bunten, lauten und quirligen – gelegentlich sogar grellen – Mixtur aus Szenen, die mal dokumentarischen, mal spielfilmartigen und dann wieder parodistischen Charakter haben. Als Teil des Ganzen agiert Wilms anfangs vor der Kamera, um zu zeigen, dass hier bewusst inszeniert wird. Einige Montagen wirken absichtlich gestellt, um ein paar Lacher beim Publikum zu landen; aber auch um zu zeigen, dass ein Dokumentarfilmer nichts anderes macht, als Material zusammenzustellen und damit seine subjektive Sichtweise ins Spiel bringt. Nebenbei wird also auch die Objektivität des Dokumentarfilms infrage gestellt. Auf diese Weise komponiert Wilms die „Reise des Helden“ (Christopher Vogler, Filmjournalist) zu einem Gesamtwerk, das als eine Mischung aus Dokumentarfilm, Bollywood-Drama, Komödie, Musical, Wunscherfüllungsshow und Märchen bezeichnet werden muss. Mit dieser Stilerweiterung gelingt es Wilms nicht nur ein überaus unterhaltsamen Film vorzulegen, sondern gleichzeitig die Grenzen des Genres „Dokumentation“ zu erweitern und um ein wertvolles Zeugnis gelebter Traumerfüllung zu bereichern.

    Auch wenn der Film zu einigen Teilen aus oberflächlichem Palaver besteht, hat er dennoch Tiefgang. Eine von Issars unerfüllten Liebschaften in Finnland beispielsweise philosophiert über Träume. Mit einem scharfen Blick in Richtung des Schneiders erklärt sie, man müsse etwas für seine Träume tun, da sie sonst nie in Erfüllung gehen können. Würde man es unterlassen, an der Verwirklichung seiner Träume zu arbeiten, so werde man sich eines Tages umschauen, sein Leben betrachten und in stumpfes Sinnieren verfallen, denn dann würde sich die Erkenntnis aufdrängen, sein Leben nicht erschöpfend gelebt zu haben. Als ambivalente Spiegelung und mit einem zwinkernden Auge lässt sich diese Ebene auch im Film selbst wiederfinden. Was tut Issar, um seinen größten Wunsch erfüllt zu sehen? Ist es nicht der Regisseur, der dessen Traum wahr werden lässt? Bringt es also doch etwas, sich nur zu wünschen, dass ein Traum in Erfüllung geht und abzuwarten?

    Kleinere Redundanzen im Mittelteil des Films und die sich etwas schleppende Dramaturgie sollte man „Tailor-Made Dreams“ verzeihen – letztlich steuert der Film auf ein emotionales Ende hin, dass nochmals deutlich werden lässt, wie gut diese Mixtur auf filmischer und empathischer Ebene funktioniert. Eine Warnung soll an dieser Stelle noch ausgesprochen werden: Ganz große Vorsicht ist bei dem musikalischen Hauptmotiv geboten, das sich durch den Film zieht wie der rote Faden eines Schneiders: „Dressmaker, dressmaker“ ist definitiv als ein sich ganz besonders hartnäckig festsetzender Ohrwurm zu klassifizieren, der einem auch noch Tage nach dem Kinobesuch im Kopf herumschwirrt: Dressmaker, dressmaker, tailor by trade, lover by heart …

    Bunt, originell und äußerst charmant kommt der neueste Film von Regisseur Marco Wilms daher. Neben einem Protagonisten, den man einfach nur mögen kann, weil sein großer Traum von Reichtum und Berühmtheit nur allzu menschlich ist, glänzt „Tailor-Made Dreams“ mit einer sehenswerten Mischung aus Dokumentation, Spielfilm und Wünsche-werden-wahr-Show. Mit dieser Bollywood-Doku-Mixtur beweist Marco Wilms wieder einmal sein Gespür für kreative filmische Dokumente.

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