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    Hass
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Hass
    Von Fabian Hempel

    Die Erde befindet sich um ihre eigene Achse rotierend scheinbar friedlich auf ihrer Umlaufbahn im Sonnensystem. Plötzlich und unaufhaltsam nähert sich asteroidenartig ein Molotowcocktail dem angeblichen Mittelpunkt des intelligenten Lebens. Sein Aufprall verwandelt den blauen Planeten in ein Flammenmeer. „La Haine“ erzählt davon, was passiert, wenn ein Land in Zeiten großen wirtschaftlichen Wachstums billige Arbeitskräfte importiert und dann völlig das Interesse an ihnen verliert, sobald ihre früher dringend benötigte Arbeit überflüssig wird. Kompromisslos prangert das 1995 veröffentlichte Drama von Regisseur Mathieu Kassovitz die Zustände in den Vororten französischer Großstädte und die Brutalität der Polizei gegenüber deren Bewohnern an. Im Jahre 2007 ist der reale Bezug zu den Unruhen in den sozialen Brennpunkten aktueller denn je, nicht nur in Frankreich.

    Untermalt von Bob Marleys Friedenshymne „Burnin' And Lootin'“ lässt Kassovitz im Vorspann die nächtlichen Krawalle Revue passieren. In schwarz-weißen Bildern konzentriert sich der Film auf den folgenden Tag im Leben von Vinz (Vincent Cassel), Saïd (Saïd Taghmaoui) und Hubert (Hubert Koundé), drei perspektivlosen Freunden aus Einwandererfamilien der Banlieue. Nachdem ihr Bekannter Abdel in den nächtlichen Kämpfen zwischen randalierenden Jugendlichen von der Polizei lebensbedrohlich verletzt wurde, brodelt der Hass in ihnen. Die drei Freunde ziehen orientierungslos durch ihr monolithisches Betonviertel. Dabei treffen sie Freunde, geraten immer wieder mit guten und schlechten Polizisten in Konflikt, aber die meiste Zeit warten sie sprichwörtlich auf Godot. Jeder der drei Hauptprotagonisten stammt aus einer der drei prägenden Randgruppen im heutigen Frankreich. Vinz ist jüdischer Abstammung und das Pulverfass der Gruppe. Er würde auch nicht vor dem Gebrauch einer gefundenen Schusswaffe zurückschrecken, um den möglichen Tod von Abdel zu rächen. Nehmen sie einen von uns, stirbt einer von ihnen. Der Araber Saïd überspielt mit seiner aufgesetzten guten Laune die Tatsache, dass er keine Zukunft hat. Aber das ist ihm auch egal, er schließt einfach die Augen. Die wahren Persönlichkeiten der beiden kommen in den an Taxi Driver angelehnten Spiegelszenen zum Vorschein. Hubert erscheint als der Vernünftigste und Reifste des Trios. Als seine vom Staat subventionierte Boxhalle niederbrennt, erkennt er, dass es für ihn nur einen Ausweg gibt. Er will unbedingt aus der Gewaltspirale seines Viertels entkommen.

    „Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt. Während sie fällt, sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder:“

    Die Idee für den Film kam Mathieu Kassovitz (Die purpurnen Flüsse, Gothika), als er vom Tod des jungen Makomé hörte. Mit Handschellen an einen Heizkörper gekettet wurde der junge Zairer während eines Polizeiverhörs von einem Inspektor 1995 getötet. Daraufhin organisierten die Hinterbliebenen eine anfangs friedliche Mahnwache vor dem besagten Polizeirevier. Einige Jugendliche drohten der Polizei, doch sie überschritten nie die Grenze der Gewalt, die Gesetzeshüter schon. Die Szenen am Anfang des Films sind echte Ausschnitte der damaligen Straßenkämpfe, die auf den Tod Makomés folgten. „La Haine“ beschreibt die Probleme vom Leben in den Vierteln und der Beziehung der Leute zur Polizei, aber konkrete Lösungen deutet der Regisseur, wenn überhaupt, nur indirekt an. So hat die Schlüsselszene, in der ein älterer Mann Vinz, Saïd und Hubert auf einer öffentlichen Herrentoilette von seiner Deportation nach Sibirien und dem Tod seines besten Freundes erzählt, eine differenzierte, aber schwer deutbare Aussage. Nicht nur die drei Hauptakteure fragen sich, was der alte Mann damit ausdrücken wollte. Jedoch blicken die Protagonisten nach dieser Szene mit etwas mehr Distanz auf die Probleme, in denen sie sich befinden.

    „…Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…“

    „La Haine“ ist großes Kino und auch optisch ein Meisterwerk. Um ein realitätsnahes Bild einer Gesellschaft am Abgrund wiederzugeben, verzichtet Kassovitz durch das Filmen in schwarz-weiß bewusst auf übertriebene, ästhetisierende Bilder. Sie harmonieren mit den Betonlandschaften und fangen ihre triste monolithische Wirkung ein. Besonders beeindruckend sind die Kameraeinstellungen- und fahrten geworden. So verfolgt Kassovitz seine Protagonisten ohne viele Schnitte, was den Film realistischer wirken lässt. Auf Musik wird bis auf den Vorspann fast völlig verzichtet. Nur selten ist ein Song zu hören und wenn, dann nur durch ein offenes Fenster oder in einem Geschäft. Dabei akzentuiert der einzelne Einsatz von Musik die bedrückende und gespannte Stimmung der Bilder.

    „…Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“

    Die 1995 noch am Anfang ihrer Karriere stehenden Schauspieler liefern in „La Haine“ absolute Höchstleistungen ab. Vincent Cassel (Die purpurnen Flüsse, Entgleist, Irreversibel) hat in „La Haine“ die ultimative Leinwandpräsenz. Er ist der dominierende Schauspieler des Films. Mit seinem wilden und proletenhaften Auftreten sowie seiner ungebändigten Wut verkörpert Cassels Figur den Archetypus des ziellosen, gebrochenen Halbstarken. Für ihn scheint Gewalt der einzige Ausweg zu sein. Zu Recht wurde sein Name durch Rollen in europäischen und amerikanischen Großproduktionen weit über Grenzen Frankreichs hinaus bekannt.

    Saïd Taghmaoui begeistert durch seine ambivalente Darstellung als Frohnatur und verzweifelten, augenschließenden Jugendlichen. Hubert Koundé gibt als Hubert den vermeintlichen Ruhepol des Trios. Dem Zuschauer erscheint er aufgrund seiner wenigen Wutausbrüche als reifste Figur. Dennoch gibt Koundé seiner phänomenal gespielten Rolle einen undurchschaubaren Charakter, da er seine Gefühle oft nur im Ansatz zum Ausdruck bringt. Auf Sprachebene wird mit das Beeindruckendste präsentiert, was je in einem Jugenddrama zu sehen war. Minutenlang ohne Cut liefern sich die Akteure unglaublich authentische Dialogduelle, die nicht wie Drehbuchzeilen wirken, sondern wie real gesprochene Sprache auf der Straße. Daher ist auch besonders die Originalfassung von „La Haine“ zu empfehlen.

    Mathieu Kassovitz hat mit „La Haine“ nicht nur einen hervorragenden Film abgeliefert, sondern neben „Boyz N The Hood“ und City Of God auch eine Referenz des Genres geschaffen. Selbst über ein Jahrzehnt nach seiner Veröffentlichung ist der Film großartiges Kino französischer Schule. Minimalistisch und zielsicher verurteilt er ganz im Stile von Émile Zolas wohl berühmtesten Pamphlets „J’accuse“ die Missstände in der französischen Gesellschaft. Pflichtstoff, nicht nur im Französischunterricht, denn die Welt gehört uns.

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