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    100 Feet
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    100 Feet
    Von Andreas Staben

    Mitten in seinem Psycho-Thriller und Geisterfilm „100 Feet“ macht Autor und Regisseur Eric Red dessen Regeln und Grundlagen explizit zum Thema: Er lässt seine ans Haus gebundene Protagonistin die Bitte aussprechen, ihr aus der Bibliothek Bücher über Geister zu besorgen. Die in diesen Ratgebern empfohlenen Maßnahmen stellt sie danach gegen die Bedrohung in den eigenen vier Wänden auf die Probe. Mit großer Selbstverständlichkeit setzt Red, dem wir auch die Drehbücher zu den Genreklassikern „Hitcher – Der Highway-Killer“ und Near Dark verdanken, bekannte Versatzstücke ein und variiert sie. Schockeffekte dosiert er dazu sparsam, aber wirkungsvoll, und seinen bösen Geist versieht er mit unbezweifelbarer Präsenz. Mit der überzeugenden Hauptdarstellerin Famke Janssen (X-Men-Trilogie, Sag‘ kein Wort, 96 Hours) und einem reduzierten Schauplatz mit reizvoller Atmosphäre entwickelt Red statt eines rein formelhaften Spiels mit Klischees ein in der Tradition fußendes eigenständiges Drama. Im Gewand des Genrefilms geht es um die ganz persönlichen Phantome, um Schuldgefühle und Rachewünsche, um Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Erlösung.

    „100 Feet“ - also etwa 30 Meter -, das ist der Bewegungsradius, der Marnie Watson (Famke Janssen) bleibt, nachdem ihre Haftstrafe unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wurde. Für ein Jahr steht sie - mit einer Fußfessel versehen - noch unter Arrest. Ihre Strafe verbüßt sie in jenem Haus in Brooklyn, in dem auch die Tat geschah, die sie hinter Gitter brachte. Sie tötete ihren gewalttätigen Ehemann, den Polizisten Mike Watson (Michael Paré), in einer aus Marnies Sicht klaren Notwehr-Situation. Etwas anders sieht das Mikes Ex-Partner Shanks (Bobby Cannavale, The Station Agent, The Night Listener, Fast Food Nation), der auf die Gelegenheit wartet, Marnie wieder einzubuchten. Bald manifestiert sich auch der Groll des Toten unmissverständlich und die isolierte Frau gerät zunehmend in Gefahr...

    Ein fast unwirklich schöner, sonnendurchfluteter Tag, die Brücken und Häuser der Stadt ziehen majestätisch vorüber. Auf dem Rücksitz eines Autos saugt Marnie diese Eindrücke mit dem Gesicht dicht am Fenster auf. Bereits mit dieser Eröffnung beginnt Eric Reds Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer, denn was eine einfache Taxifahrt sein könnte, erweist sich als Gefangenenüberführung. Der verheißungsvollen Stimmung der ersten Bilder folgt bald die Tristesse des leerstehenden Hauses, verstärkt durch die feindselige Haltung von Shanks setzt Red so einen ersten Stachel des Unbehagens. Der genregemäße Spannungsaufbau folgt im weiteren Verlauf durchaus nicht immer den Regeln der Logik, im Mittelpunkt von Reds Interesse steht aber ohnehin die fein gezeichnete Hauptfigur.

    Bereits bei den Versuchen, ihre relative Freiheit mit einem gemütlichen Schaumbad oder einem kitschigen Schmöker zu genießen, schafft es Famke Janssen, eine komplexe Mischung aus Härte und Verletzlichkeit zu suggerieren. Sie lässt Marnies schwere Erfahrungen, von denen wir erst nach und nach Konkretes erfahren, in ihrem Mienenspiel und ihrer Körpersprache mitschwingen. Der Charakter ist weit entfernt von der klassischen Figur des wehrlosen Opfers, vielmehr zeigt Janssen einen auch physisch bis zur Erschöpfung gehenden Behauptungswillen. So ist der Kern von „100 Feet“ nicht unbedingt das virtuose Spiel auf der Klaviatur des Schreckens, sondern dessen Unterfütterung durch eine nuancierte Charakterstudie.

    Die räumliche Beschränkung durch die Fußfessel ist in „100 Feet“ anders als etwa in Disturbia mehr als ein cleverer dramaturgischer Kniff zur Spannungserzeugung. Die Bindung an das Haus und ihre Überwindung sind hier ein integraler Bestandteil des psychologischen Porträts. Sie versinnbildlichen genauso Marnies Schwierigkeiten, sich nach einer traumatischen Ehe der Außenwelt zu öffnen, wie den Loslösungsprozess von den Dämonen der Vergangenheit. Diese wiederum manifestieren sich zunächst in den Blutspuren an der Wand, denen mit Putzmitteln nicht beizukommen ist. Es folgt ein wenig Möbelrücken und Porzellan-Zerschlagen nach Art von „Poltergeist“ ehe der getötete Ehemann schließlich selbst geisterhaft in Erscheinung tritt. Michael Paré (The Virgin Suicides, Postal), der dem computergenerierten Phantom seine Züge leiht, hat im Gegensatz zu Famke Janssen keine Gelegenheit, sich mit darstellerischer Finesse zu profilieren. Sein wütend aus dem Jenseits grollender Mike pocht gewalttätig und unmissverständlich auf seine ehelichen Rechte.

    Marnies Gegenspieler scheint zunächst das Haus selbst zu sein. Red spielt mit einem der Urmotive von Schauergeschichten, wenn er seine Protagonistin in den buchstäblichen finsteren Keller schickt und legt im Gebäude Köder aus. Was da etwa unter den Bohlen des Holzfußbodens verborgen ist, könnte der Keim einer ganz anderen Erzählung sein. Der Regisseur verbindet gekonnt selbstreflexive Elemente mit seiner Thriller-Handlung. So ist der Besuch eines Priesters nicht nur ein gelungener Spannungsmoment, sondern auch eine Verbeugung vor Der Exorzist, der auch für die einzige drastische Gewaltszene des Films Pate gestanden hat. Die wiederum gehört nicht unbedingt zu den stärksten Momenten von „100 Feet“, da sie ähnlich wie der pyrotechnische Exzess des Finales zu sehr an äußerer Wirkung statt an emotionaler Nachhaltigkeit orientiert ist.

    Wie sich ein Adrenalinschub effektiv und sinnfällig mit der Erkundung tieferliegender Ängste verbinden lässt, demonstriert Red beim verzweifelten Kampf Marnies mit dem Müllzerkleinerer. In der Konfrontation der um Selbstbestimmung ringenden Frau mit einem vom Geist ihres Gatten repräsentierten eisernen Prinzip versteckt Red eine Abrechnung mit der Institution Ehe in einer männerdominierten Gesellschaft. Mit geschickt eingesetzten symbolischen Verweisen erzählt der Regisseur so nicht nur von seinem eigenen Wirken und legt die filmischen Traditionslinien offen, denen er folgt, sondern öffnet die Perspektive auch nach außen. Wenn Marnie gezwungen ist, ihrerseits eine Phantom-Existenz zu führen, verbindet sich in „100 Feet“ ähnlich wie in vielen aktuellen Genrebeiträgen aus Asien die innere Logik des Films mit einem klaren analytischen Blick auf die Welt.

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