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    Mein Bruder ist ein Einzelkind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mein Bruder ist ein Einzelkind
    Von Björn Becher

    Der Regisseur und Autor Daniele Luchetti ist in seiner Heimat Italien kein Unbekannter und schon länger erfolgreich. Aus dem Dunstkreis des bekanntesten italienischen Regisseurs, dem Politfilmer Nanni Moretti (Der Italiener) stammend, dreht er seit 1988 erfolgreich Spielfilme, die aber bisher fast nie den Weg in die deutschen Kinos fanden. Nur „Der Taschenträger“ lief 1992 in einigen Lichtspielhäusern. Sein neuestes Werk mit dem klangvollen, aus dem Refrain eines in Italien extrem populären Volksliedes entstammenden Titel „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ bekommt nun nach einem ungemein großen Publikumserfolg in der Heimat und als Abräumer bei den italienischen Filmpreisen durch den kleinen Verleih Koolfilm (u.a. Leergut, Das Haus aus Sand und Nebel) die Chance, deutsche Zuschauer für Luchettis Schaffen zu begeistern. Und diese zu ergreifen, lohnt sich durchaus, denn auch wenn die einen sehr großen Zeitraum umspannende Tragikomödie zuweilen ein bisschen eigenwillig erzählt ist, vermag sie zu gefallen.

    Latina, Anfang der 60er Jahre. Das einst von Mussolini gegründete kleine Städtchen ist alles andere als schön. Vor allem die Wohnungen zerfallen immer mehr und die von der Stadtverwaltung versprochenen Neubauten, für deren Errichtung von jedem Gehaltsscheck etwas abgezogen wird, lassen auf sich warten. Doch die Familie Benassi, die in einer der Bruchbuden wohnt, hat ganz andere Probleme. Während Tochter Violetta (Alba Rohrwacher) eine vielversprechende Musikerin werden könnte und der älteste Sohn Manrico (Riccardo Scamarcio) mit seinem Charme jeden becirct, macht der jüngste Sohn Accio (erst: Vittorio Emanuele Propizio, später: Elio Germano) seinen Eltern (Massimo Popolizio, Angela Finocchiaro) Kummer. Nach zahlreichen Prügeleien und dem verpassten Spitznamen „Ekel“ ist er mittlerweile auf einer Priesterschule gelandet, wo es ihn auch nicht lange hält. Am einen Tag noch fundamental in seinem Glauben, zweifelt er am nächsten die Regeln an und wird nach einer Prügelei rausgeschmissen. Auch zu Hause geht er gleich mal wieder in Opposition zur Familie und versteht es sich herzhaft zu streiten. Während sein Bruder Manrico sich bei den Kommunisten engagiert, folgt Accio kurzerhand seinem väterlichen Freund Mario (Luca Zingaretti) in die Partei der Faschisten. Jahre später stehen sich die Brüder so immer wieder bei Demonstrationen gegenüber. Während Arbeiter Manrico seine Kollegen aufwiegelt und zum Streik und der Zerstörung des Kapitals aufruft, skandiert der intelligente Accio vor den Werkstoren die „Duce“-Rufe. Zusätzliche Spannung bringt die hübsche Francesca (Diane Fleri) in die Beziehung. Manricos neue Freundin wird auch zu einer wichtigen Bezugsperson von Accio, der es liebt, sich mit der Kommunistin in endlosen politischen Streitgesprächen zu fetzen, sie aber gerne noch mehr lieben würde. Jahre ziehen ins Land, man verliert sich immer wieder aus den Augen und trifft sich wieder. Und während Accio immer mehr die Fehlgeleitetheit seiner politischen „Freunde“ erkennt, wird Bruder Manrico in seiner politischen Anschauung zunehmend radikaler.

    Die Geschichte von „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ umspannt ungefähr ein Jahrzehnt und erzählt vor allem von den beiden Brüdern Manrico und Accio. Zu Anfang mag es dabei für den einen oder anderen etwas befremdlich erscheinen, wie gezielt Regisseur Luchetti die großen Konfliktspitzen umschifft. Dass beide sich bei den politischen Straßenkämpfen immer wieder gegenüber stehen, ist in der gemeinsamen Zweisamkeit nur selten ein Thema und als beide die gleiche Frau lieben, aber nur der schöne (und untreue) Manrico sie haben kann, kommt es ebenfalls nicht zum erwarteten Zusammenstoß. Stattdessen löst sich das Ganze vorerst auf, als Francesca mit ihren Eltern den Ort verlässt. Luchetti wählt nämlich nicht den auf einen Höhepunkt mit der Entladung aller Konflikte zugeschnittenen Erzählstil des klassischen Dramas, sondern porträtiert viel mehr das Heranwachsen zweier Jugendlicher, später junger Männer, vor einer gesellschaftspolitisch bewegten Zeit, von der sie aber zu Beginn in ihrem kleinen Ort nicht alles mitbekommen. Gerade dieser realistische Blick ist es dann, der den Film über die gesamte Laufzeit sehenswert und auch ein wenig unberechenbar macht.

    Wie gerade der hochintelligente und studierte Accio vom Faschismus zum Kommunismus trudelt und versucht seinen Platz in einer ungerechten, von korrupten Beamten bestimmten italienischen Gesellschaft zu finden, funktioniert perfekt als Spiegel der italienischen Jugend mit ihrem Drang zur Rebellion jener Zeit. Regisseur Luchetti sagt, dass er selbst mit seinem Film eine ideologische Stellungnahme vermeiden wollte und nur Menschen zeigt, die ihrerseits Stellung beziehen. Das macht er auch konsequent, bleibt aber trotzdem nicht frei von Stellungnahmen. Sein Film funktioniert durchaus auch als Verweis auf die aktuelle, völlig chaotische politische Lage in Italien. Nur zur Erinnerung: Nach turbulenten Szenen im Parlament musste der italienische Ministerpräsident Romano Prodi Ende Januar 2008 zurücktreten. Von diesem Rücktritt konnte beim Dreh natürlich noch keiner etwas wissen, dass die Regierung Prodi die 61.in 63 Jahren (!) italienischer Demokratie war und das Prodis aus neun (!) Parteien bestehende Koalition alles andere als der Ausdruck einer stabilen Demokratie ist, war dem Regisseur aber sicher bekannt.

    Die filmische Umsetzung des interessanten, auf dem Roman „Il Fasciocomunista“ von Antonio Pennacchi basierenden Stoffes weiß zu gefallen. Auf übertriebene Stilmittel verzichtet der Regisseur, integriert aber zum Beispiel eine wunderbare Überblendung vom jungen Accio zum älteren bei einem Zeitsprung. Im Übrigen war Luchetti vor allem die Freiheit der Darsteller wichtig. Er machte ihnen kaum Vorschriften hinsichtlich der Dynamik, sondern ließ diese sich während des Spiels frei entwickeln. Bei diversen Szenen setzte er zudem mehrere Kameras ein, um zu verhindern, dass sich die Darsteller zu sehr fokussieren und befreiter spielen konnten. „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ wirkt so teilweise durchaus leicht dokumentarisch.

    Die Schauspieler nutzen ihre Freiheiten, um groß aufzuspielen. In der Hauptrolle brilliert Elio German (Do You Like Hitchcock?, Nessuna Qualità Agli Eroi), der für diese Performance mit einem Donatello (dem „italienischen Oscar“) als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet und 2008 auf der Berlinale in den Kreis der europäischen Shootingstars berufen wurde. Dass das gegensätzliche Brüderpaar richtig funktioniert, ist daneben der Verdienst von Riccardo Scamarcio, der zeigt, dass er mehr als der Schwarm aller italienischen Mädels ist. Erwähnenswert ist vor allem noch Angela Finocchiaro (Don´t Move, die als Mutter der beiden Brüder in ihren wenigen Szenen eine ungemeine Präsenz aufweist.

    „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ ist Italien pur. Die Protagonisten streiten immer wieder lautstark und wild gestikulierend, wie es in Deutschland nicht vorstellbar wäre. Dabei gerät die gelungene Mischung aus Komik, Tragik und Romantik aber nur selten aus der Spur und entlädt sich exzellent in einem anarchischen Schluss, vor dem es nur etwas schade ist, dass ein paar der letzten Zeitsprünge zu rasant kommen.

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