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    Mr. Shi und der Gesang der Zikaden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mr. Shi und der Gesang der Zikaden
    Von Christian Schön

    Eine Situation, die jeder kennt, der einmal für längere Zeit Besuch aus dem Ausland hatte, ist die, dass als eines der ersten Dinge das Fluchen und das Witze machen in der neuen Sprache vermittelt wird. Warum ist das so? Wenn sich ein freundschaftliches Verhältnis zu den Fremden aufbauen soll, ist man zunächst an den Gefühlen des Anderen interessiert. Diese vermitteln sich in erster Linie nicht über die lebensnotwendigen Alltäglichkeiten, sondern über Humor und alle anderen Variationen, die das zwischenmenschliche Leben so zu bieten hat. Gerade solche Gefühlsäußerungen helfen über noch so große Unterschiede in der Sprache hinweg. Darüber hinaus ist keineswegs gewährleistet, dass man als Teilnehmer derselben Sprache sich unbedingt reibungslos versteht. Dieser Thematik geht Wayne Wangs neuer Film „Mr. Shi“ nach. Er liefert im Ergebnis ein facettenreiches Bild, das vom Komischen bis zum Tragischen, vom Absurden bis zum Tiefgängigen für jeden etwas bereithält.

    Herr Shi (Henry O) besucht nach Jahren der Trennung seine Tochter Yilan (Faye Yu). Dazu reist er vom fernen China in die Vereinigten Staaten, wohin seine Tochter mit ihrem damaligen Mann gezogen ist, um ihr Glück zu suchen. Grund für den Besuch von Herrn Shi ist die Scheidung Yilans. Der besorgte Vater nimmt sich vor, so lange zu Besuch zu bleiben, bis seine Tochter wieder mit beiden Beinen im Leben stehen kann. Doch die lange Zeit der Trennung hat scheinbar ihre Spuren hinterlassen. Herr Shi kann nicht wirklich Kontakt zu seiner Tochter aufnehmen, da diese sich kaum bereit zeigt, über Wichtiges mit ihrem Vater zu sprechen. Die Zeit der Gespräche beschränkt sich schnell auf die gemeinsamen Mahlzeiten. Yilan geht zum einen einer geregelten Arbeit an der Universität nach und hat zum anderen auch in den Abendstunden ihr Privatleben. Mehr oder weniger dazu gezwungen, erkundet Herr Shi in kleinen Schritten das beschauliche Städtchen, in dem Yilan wohnt. Schnell bekommt er Kontakt zu den Menschen in der Nachbarschaft, der aufgrund der Sprachbarriere nur oberflächlicher Natur bleibt.

    Ganz im Gegensatz dazu entwickelt sich eine Freundschaft zu einer Frau, die von Herrn Shi schlicht als „Madame“ (Vida Ghahremani) bezeichnet wird. Madame ist eine Iranerin, die aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen musste. Die beiden treffen sich täglich im nahe gelegenen Park und unterhalten sich rege, obwohl beide des Englischen nicht wirklich mächtig sind. Obwohl sie permanent in ihre Muttersprache zurückfallen, verstehen sie sich ausgezeichnet. Aus den Begegnungen mit Madame gelangt Herr Shi zu der Einsicht, dass die Beziehung zu seiner Tochter doch das Wichtigste in seinem Leben hätte sein müssen. Umso mehr bemüht er sich, hinter das Rätsel des Schweigens seiner Tochter zu kommen. Von Besorgnis und Neugier getrieben, beginnt er, Yilan nachzuspionieren und versucht sie stärker zu beeinflussen. Je aufdringlicher sein Bestreben wird, desto klarer wird ihm, wie unwillkommen seine Anwesenheit im Leben Yilans ist. Er findet Reservierungen für Rundreisen durch die USA, die ohne sein Wissen gemacht wurden. Eine Konfrontation wird zusehends unausweichlich. Doch verbirgt sich nicht nur hinter Yilans Schweigen ein Rätsel. Dieses ist vielmehr an ein Familiengeheimnis gebunden, dass von Herrn Shi vermeintlich gehütet wird. Beide Geheimnisse drängen danach, ans Tageslicht zu gelangen…

    „Du verstehst nicht, Papa. Wenn man in einer Sprache aufgewachsen ist, in der man nicht gelernt hat, seine Gefühle auszudrücken, ist es einfacher, in einer neuen Sprache zu sprechen. Man wird zu einer anderen Person.“ (Yilan zu ihrem Vater in „Mr. Shi“)

    Wie sehr unser Leben mit unserer Sprache verwurzelt ist, hat bereits der Philosoph Ludwig Wittgenstein in der Sentenz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ ausgedrückt. Damit ist gemeint, dass alles, wofür man keinen sprachlichen Ausdruck besitzt, eigentlich nicht existiert. Für Yilan ist dieser Umstand von tragischer Tragweite. In der Beziehung zu ihrem Vater hat sie gar keine Möglichkeit von sich zu berichten, weil ihr in ihrer Muttersprache die sprachlichen Mittel dafür fehlen. Ihre Gespräche sind deshalb von alten Anekdoten, Allgemeinem und sprachlichen Schwierigkeiten des Vaters mit der neuen Sprache geprägt. Über die wesentlichen Dinge des Lebens wurde in der Familie Shi nie gesprochen. So verbleibt Yilan nur das Schweigen als Null-Ausdruck. Im Kontrast dazu gelingt Herrn Shi die Kommunikation mit den Menschen in der Nachbarschaft und vor allem mit Madame, trotz der wenigen sprachlichen Fetzen, über die er verfügt, in erstaunlicher und liebevoller Weise überaus gut. Je länger man den Helden der Geschichte auf seinen Erkundungstouren begleitet, desto paradoxer erscheint einem der Umstand, dass sich Vater und Tochter, dieselbe Sprache sprechend, nicht verstehen.

    Das komische Potential, das in der Begegnung von Herrn Shi mit der neuen Welt liegt, weiß Wayne Wang voll auszuschöpfen. Dabei wird der sprachliche Konflikt von einem zweiten überlagert. Herr Shi gehört der Generation der Menschen an, die in China die Kulturrevolution unter Mao Zedong miterlebt haben. Als einer der letzten überzeugten Anhänger sieht er die Welt mit rot gefärbten Augen. Damit wiederholt die Independentproduktion „Mr. Shi“ den alten Konflikt des amerikanischen Hollywoodkinos zur Zeit des Kalten Krieges. Damals waren die Rollen klar verteilt: Die Guten waren Anhänger des Westens, während der Böse die Bedrohung aus dem kommunistischen Osten verkörperte. Allerdings sind die Fronten längst bereinigt und der Gewinner scheint festzustehen. So sitzen in „Mr. Shi“ Kommunist und Iranerin friedlich nebeneinander im Park und plaudern über Amerika als das Land der Freiheit und Möglichkeiten. Nur noch als Zitat, ironisch gebrochen, taucht die kommunistische Vergangenheit von Herrn Shi immer wieder als Running Gag im Film auf. Die wirklich wichtigen Dinge spielen sich nicht mehr auf politischer Ebene ab. Die Familie als der Gegenpol zur Weltpolitik kann sich über alle Grenzen hinweg behaupten.

    Im Normalfall durchlaufen die Filme von Wayne Wang einen Prozess, der als „Pacing Pass“ bekannt ist. Auf dem Schneidetisch fallen dabei Szenen aus dem Film heraus, die für den Fortgang der Filmhandlung nicht zwingend nötig sind. „Mr. Shi“ bildet hier die Ausnahme von der Regel. So idyllisch die Szenen der zwei alten Menschen im Park sind, so ruhig kommt der Film als Ganzes daher. Wang lässt viel Raum für die kleinen Dinge im Leben seiner Protagonisten, auf die es ihm hier besonders ankommt. Passend ist diese Herangehensweise im Fall von „Mr. Shi“ auch insofern, dass das Schweigen der Hauptfigur Yilan so voll zur Geltung gebracht wird. Der Film will zum Denken anregen und schafft auch auf formaler Ebene die passende Atmosphäre dazu. Kameramann Patrick Lindenmaier („Schlaflose Nächte“, Ein Lied für Argyris) sucht in seinen Bildern Harmonie. Hauptmerkmal seiner Kompositionstechnik ist eine formelhafte Strenge und ein Hang zur Symmetrie. Die so entstehende kühle Atmosphäre passt perfekt zum künstlichen Flair der amerikanischen Kleinstadt.

    Wayne Wangs „Mr. Shi“ basiert auf der Kurzgeschichte „A Thousand Years Of Good Prayers“ der chinesischen Autorin Yiyun Lis. Das Grundgerüst zum Film entstammt fast eins zu eins daraus. Allerdings erweiterte Wang während der Arbeit zum Film die Geschichte sukzessive. Einzelne Figuren, die im Film auftauchen, wurden mit Laien besetzt, die in der kleinen Stadt Spokane im Mittleren Westen Amerikas ansässig sind. Diese durften, wie auch die Hauptdarsteller, ihre eigenen Lebensgeschichten mit einbringen, was dem Film eine besondere Note der Echtheit mitgeben sollte. Und echt liebenswert sind die Charaktere, denen man in „Mr. Shi“ begegnet, tatsächlich. Wayne Wangs Suche nach Authentizität ist zu verdanken, dass nicht nur die Sprachthematik die Handlung bestimmt, sondern auch ein Querschnitt des aktuellen amerikanischen Lebens im Film reflektiert wird.

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