Mein Konto
    Der große Navigator (WA)
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der große Navigator (WA)
    Von Christian Horn

    Denkt man an Missionare, dann fallen einem zunächst das vorletzte Jahrhundert und exotische, ferne Gegenden ein; Afrika und Südamerika, Kannibalen und Kreuzzüge. Aber, man mag es kaum glauben, es gibt auch Missionare, die gegenwärtig in Deutschland tätig sind und Bundesbürger zum christlichen Glauben bekehren möchten; insbesondere in den Neuen Bundesländern, die in weiten Teilen von „Heiden“ bewohnt werden. Die beiden Regisseurinnen Wiltrud Baier und Sigrun Köhler („Schotter wie Heu“) porträtieren in ihrem Dokumentarfilm „Der große Navigator“ einen dieser Missionierenden, den Schwaben Jakob Walter, der 22 Jahre lang in Papua Neuguinea tätig gewesen ist und nun seinen Bekehrungsauftrag in der ostdeutschen Provinz antritt, genauer gesagt: in Mecklenburg-Vorpommern. Technische Fragen, etwa die nach der Finanzierung einer solchen Tätigkeit, werden weitgehend ausgespart. Vielmehr geht es um die Menschen- und Glaubensbilder der verschiedenen Protagonisten, die mit einem präzisen Blick und herzlichem, aber nicht diffamierendem Humor transparent gemacht werden.

    Fast ein Jahr lang haben die beiden Frauen den schwäbischen Überzeugungs-Christen begleitet: Sie zeigen, wie er Flyer für Informationsveranstaltungen verteilt, immer wieder und mit einer erstaunlichen Langatmigkeit den Kontakt zur Jugend sucht und filmen ihn bei ganz alltäglichen Verrichtungen, etwa dem Verlegen einer Stromleitung in seinem neuen Domizil, beim Gebet vor dem Abendessen oder der Anmeldeprozedur auf dem Bürgeramt. Immer wieder zeigt der Film ihn auch beim Autofahren und Befolgen der Anweisungen des titelgebenden Navigationsgerätes (doppelsinnig ist der Titel freilich, denn „Der große Navigator“ ist natürlich auch ein Synonym für den Allmächtigen). Die zweite „Hauptrolle“, wenn man so will, spielt ein Jugendlicher, der während der Dreharbeiten auf einem öffentlichen Platz zufällig anwesend ist und immer wieder die Wege des Teams kreuzt. Dieser weiß nicht so Recht, was er mit seinem Leben anfangen soll – Musik machen will er, aber das ist auch nur ein vager Plan – und wird von Walter regelrecht unter die Fittiche genommen. Es war ein Glücksfall, diesen Jungen „aufzugabeln“, denn er bildet den perfekten Gegenpol zur strengen Gläubigkeit des Protagonisten, bietet einem nicht-gläubigen Zuschauer Möglichkeit zur Identifikation und durchlebt ein Schicksal, das nicht nur sein eigenes, sondern ein kollektives der Jugend ist.

    Das Thema von der „Der große Navigator“ ist dabei nicht nur der Glaube. Der Film zeichnet – allein schon durch seinen markanten Schauplatz – ein Sittenbild Ostdeutschlands fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Zwischendurch befragen die Regisseurinnen immer wieder Passanten und Vertreter verschiedener Berufsgruppen (unter anderem Verkäufer, Gemüsehändler und Bahnkontrolleure) nach ihrem Bild von Gott und Kirche. Da gibt es etwa drei Kinder, die von der Geschichte des Sündenfalls nur sehr stockend berichten können, aber genau wissen wo und wann und unter welchen Umständen „Harry Potter“ seine Ausbildung angetreten hat – und das sehr lebhaft kommunizieren. Oder einen Fischer, der in idyllischer Morgengrauen-Atmosphäre auf seinem Boot über Gott sinniert, und feststellt: „Gott ist auch nur ein Mensch.“

    All das erzählt „Der große Navigator“ mit viel lebendigem Humor, ohne – und das ist das eigentliche Kunststück – sich über Missionare, Gläubige, Ostdeutsche oder sonst irgend jemanden lustig zu machen, was gar nicht so einfach ist, wie es sich vielleicht anhören mag. Denn wenn man schon über bestimmte Aussagen oder Aktionen Jakob Walters (oder anderer) schmunzelt, dann liegt das „über jemanden lachen“ nur noch einen Steinwurf entfernt; Wiltrud Baier und Sigrun Köhler geben dafür jedenfalls nicht den geringsten Anlass.

    Die Inszenierung lässt den Protagonisten Freiraum und den Zuschauern ebendiesen, sich selbst ein Bild von den im Film vorgestellten Menschen zu machen. Ohne einen ständig informierenden Off-Kommentar, der zwangsläufig eine Interpretation (über die filmische Gestaltung hinaus) bedeuten würde, und ohne unnötigen Firlefanz dokumentieren Baier und Köhler Menschen und Lebens- beziehungsweise Glaubensentwürfe jeglicher Ausprägung – und liefern eine handwerklich einwandfreie Leistung ab, objektiv-sachlich, dabei stets unterhaltsam. Musik kommt nur gelegentlich zum Einsatz, und wenn, dann ist die Wahl der Titel äußerst gelungen und zu keiner Zeit unangenehm auffallend. Als Jakob Walter einen Gymnastikkurs besucht, tönt etwa Wolle Petrys Schlager-Klassiker „Das ist Wahnsinn (Hölle, Hölle, Hölle)“ aus den Boxen – das ist zufällig vorgefunden und überaus lustig anzusehen.

    Alles in allem ist „Der große Navigator“ ein beachtlicher Dokumentarfilm geworden, ein ehrlich dokumentierender, also kein Dokutainment der Marke Michael Moore (Fahrenheit 9/11, Bowling For Columbine, Sicko), und gleichzeitig sehr unterhaltsamer, humorvoller Film, also ohne die Spröde eines Volker Koepp (Söhne; wobei das nicht heißen soll, dass Koepp keine gelungenen Dokumentarfilme macht, sie sind eben – im Gegensatz zu „Der große Navigator“ – weit weniger eingängig). Es ist wohl auch dem derzeitigen Dokumentarfilm-Boom im deutschen Kino zu verdanken (man denke etwa an den beachtlichen kommerziellen Erfolg von Prinzessinnenbad oder Full Metal Village), dass Wiltrud Baiers und Sigrun Köhlers charmanter Film einen Kinostart bekommen hat. Ob man ihn nun als gläubiger Christ oder „Heide“ sieht, ob man auf die Glaubensfragen, die Alltagsbeobachtungen oder das ostdeutsche Gesellschaftsporträt das Hauptaugenmerk legt, ob man unterhalten werden möchte oder ein intellektuelles Interesse an der Thematik hat: „Der große Navigator“ hält in vielerlei Hinsicht einiges bereit.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top