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    Lake Tahoe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Lake Tahoe
    Von Martin Thoma

    „Lake Tahoe“, der zweite Spielfilm des mexikanischen Regisseurs Fernando Eimbcke („Duck Season“) war eine der positiven Überraschungen im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale. Das in seiner radikalen Reduktion formal makellose Drama mit wenig Handlung und Tempo, dafür mit berückend schönen Bildern, ganz viel Atmosphäre und überraschend viel Humor kam bei Kritikern und Publikum gleichermaßen gut an. Für einen der großen Bären war der Film inhaltlich vermutlich nicht schwergewichtig und kontrovers genug, aber den Juroren des Alfred-Bauer- und des FIPRESCI-Preises war er die höchste Auszeichnung wert und das völlig zurecht.

    Die Geschichte ist in wenigen Sätzen erzählt: Der 16-jährige Juan (Diego Catano) setzt das Familienauto auf der Landstraße vor dem kleinen mexikanischen Ort, in dem er lebt, gegen einen Telegrafenmasten. Ein Unterfangen, das auf dieser völlig unbefahrenen geraden Straße ohne Vorsatz eigentlich gar nicht möglich sein sollte. Nach dem „Unfall“ springt der Wagen nicht mehr an und der Junge macht sich auf die Suche nach einer Autowerkstatt. Die nimmt schnell absurde Züge an: Der kleine Ort scheint zwar fast nur aus Autowerkstätten zu bestehen, aber in keiner kann oder will man ihm richtig weiterhelfen.

    Man merkt, dass mit Juan etwas nicht stimmt, so gebeugt und in sich gesunken wie er durch den Ort streift. Im Verlauf der Handlung, wenn er kurz zu seiner Mutter und seinem kleinen Bruder nach Hause zurückkehrt, erfährt man, was das ist. Doch auch der Ort scheint in der Mittagshitze mehr als nur verschlafen, von einer seltsamen Depression befallen zu sein. Während der Junge seinem fehlenden Ersatzteil hinterher latscht, kommt er langsam in Kontakt mit einer Handvoll Menschen: einem alten Automechaniker, der erst mal die Polizei ruft, wenn jemand sein Geschäft betritt; der ganz jungen Mutter Lucia (Daniela Valentine), die Lieder schreibt und jemanden braucht, der auf das Baby aufpasst, damit sie ausgehen könnte - was aber, auch wenn sich jemand findet, nicht so leicht umsetzbar ist und dem Bruce-Lee-Fan David (Juan Carlos Lara), der sich dem Kung-Fu-Film verschrieben hat. In das gedämpfte Leben dieser Figuren schleicht sich eine Lebendigkeit ein, die überraschend und großartig ist.

    Groß an diesem kleinen Film ist neben der filmischen Intelligenz, mit der er die kurzen Ausschnitte aus dem Leben seiner wenigen Protagonisten zeigt, seine radikale Reduktion und Konzentration, die nie aufgesetzt wirkt. „Lake Tahoe“ ist wahrscheinlich der beste Dogma-Film, den kein Dogmafilmer je gedreht hat. Denn „Lake Tahoe“ ist in seinen Mitteln deshalb so reduziert, weil er nur genau diese Mittel braucht, um maximale Wirkung zu erzielen und aus keinem anderen Grund.

    Nur fünf Figuren benötigt der Film, nur ein Stativ für seine Kamera, denn sie bewegt sich nie, nur einen Ort, nur einen Tag, keine Effekte auf der Tonspur, nur Originalton wie den Wind, der über die leere Landstraße weht, zwei Lieder, eins aus einem Kofferradio im Hintergrund, ein weiteres ganz kurzes gesungen von Lucia in einer in ihrer Beiläufigkeit und Vieldeutigkeit magischen Szene. Mit diesen einfachen Zutaten eröffnet er eine Welt, die die Zuschauer langsam und lange gefangen nimmt. Einfachheit und großes Kino müssen sich nicht widersprechen. „Lake Tahoe“ lässt niemals das Gefühl aufkommen, man hätte ihn sich auch im Fernsehen ansehen können. Regisseur Eimbcke – der seine Karriere mit Musikvideos begann – hat mit seinem erst zweiten Spielfilm einen ganz eigenen Stil entwickelt, bei dem alles zusammenpasst.

    Es ist für einen Film nicht unbedingt nötig, dass sich die Kamera bewegt. Man muss es sich hin und wieder neu bewusst machen: Die Bewegung, um die es im Medium Kino eigentlich geht, ist die Bewegung, die die Kamera aufzeichnet. Niemand hat behauptet, dass sich die Kamera selbst bewegen müsse. „Lake Tahoe“ präsentiert einzelne Einstellungen, meist sind es Totalen, immer sind sie sorgfältig komponiert. Die Stimmung von der leblosen Kleinstadt in der Sommerhitze, die sie transportieren, ist schön und melancholisch, eine gewisse Nähe zu den Gemälden Edward Hoppers und den Bildern seines größten Bewunderers unter den Regisseuren, Wim Wenders lässt sich kaum leugnen. Weil die Bilder selbst statisch sind, nimmt man ganz genau wahr, was in ihnen geschieht.

    Das sind gerne auch mal mehrere Dinge gleichzeitig, die in komischem Kontrast zueinander stehen. Ein ernsthaftes Telefongespräch und gleichzeitig eine unbeachtete Kung-Fu-Vorstellung irgendwo zwischen narzisstisch und selbstvergessen, das ist für sich genommen noch kein großer Witz – in der ungewöhnlichen Darstellungsweise dieses Films wird es ein äußerst komischer Moment.

    Vor allem sieht man Juan laufen: Er läuft – oder besser: er latscht – von links nach rechts und wieder von rechts nach links durch diese Totalen, dass man am Ende des Films überzeugt ist, wenn er nicht immer nur hin und her geschickt worden, sondern mit irgendeinem Ziel – wie weit weg auch immer – unterwegs gewesen wäre, er hätte es längst erreicht. Natürlich muss er laufen – das Auto ist kaputt –, aber wie er es tut, ist eine Sensation. Im immer gleichen Tempo, den Blick starr auf den Boden gerichtet, lässt er sich schicken. Es gibt eine kleine Aufgabe zu erledigen – das Ersatzteil für das Auto muss besorgt werden –, das hält ihn beschäftigt. Sonst gibt es wohl kein Ziel und auch keinen Weg, wichtig scheint nur, überhaupt in Bewegung zu bleiben. Wenn er schließlich mit David auf dessen Fahrrad fährt, weiß man, dass sich etwas in ihm verändern wird.

    Von einer Einstellung zur nächsten wechselt der Film fast durchgehend mit Schwarzblenden. Die Wirkung dieses altmodischen Stilmittels ist erstaunlich: Während das erste Bild noch länger im Kopf bleibt und sich im Gedächtnis festsetzt, entsteht gleichzeitig, noch bevor das nächste Bild erscheint, die Erwartung, wie es aussehen könnte. Die einzelnen Einstellungen wirken gewissermaßen doppelt: Einmal als Bild, das man sieht und dann noch einmal als Bild im Kopf. „Lake Tahoe“ ist ein Film, der nicht durch übermäßigen Gebrauch stimmungsmanipulierender Mittel die Gefühle der Zuschauer versucht in engen Bahnen zu lenken, sondern dank seiner Reduktion Raum für die Fantasie lässt. Dennoch manipuliert er auch mit seinen Bildern, und das sogar sehr geschickt. Er spielt während der Schwarzblenden, bei denen die Tonspur meistens weiterläuft, mit den Erwartungen der Zuschauer: Man hört den Hund schon bellen, doch, was in der nächsten Szene geschehen wird, sieht man noch nicht. Das ist oft spannend, überraschend, erhellend (im doppelten Sinn) und vor allem komisch.

    Die formale und die inhaltliche Einfachheit ergänzen sich. Man muss gar nicht viel erfahren über die Figuren. Eimbcke gelingt das Kunststück, eine Atmosphäre zu schaffen, die so dicht und dabei so offen ist, dass der Film wie von selbst im Kopf der Zuschauer weiterläuft. Großes Kino.

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