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    Chiko
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Chiko
    Von Tobias Diekmann

    Über „Chiko“ von Özgür Yildirim war im Vorfeld schon einiges an Lorbeeren ausgeschüttet worden. „Scorcese-Szenen im Hamburger Ghetto“ hieß es da bei „Spiegel Online“, er durfte auf der diesjährigen Berlinale im Panorama Special laufen und kann neben hoffnungsvollen Jungdarstellern mit hochkarätigen Namen wie Moritz Bleibtreu und Yildirims altem Freund und nebenbei Deutschlands Vorzeigeregisseur Fatih Akin aufwarten, der hier als Produzent auftritt. Für einen Debütfilm sicher nicht unbedingt die schlechtesten Vorrausetzungen. Und zunächst einmal scheint auch an dem Produkt selbst, einem geradeaus inszenierten Hamburger Gangster-Drama im Spannungsfeld von Drogen und Gewalt, kaum etwas auszusetzen zu sein. Die Schauspieler, allen voran Denis Moschitto, machen ihren Job gut, alles ist stilsicher in Szene gesetzt und die Geschichte bleibt - Zufall oder nicht – bezüglich der immer wieder aufkeimenden Debatte um Drogen- und Jugendkriminalität brandaktuell, ohne moralisierend daher zu kommen. Nur gibt es ein „Aber“: Denn leider nutzen all diese Referenzpunkte wenig, wenn das Fundament, auf dem eine Handlung getragen werden muss, unzureichend betrachtet wird und somit von Anfang an porös ist. Kurzum: Hier fehlt, vor allem bezüglich des Hauptcharakters, schlichtweg die Grundmotivation für das Handeln, was für einen Film dieser Kategorie nicht nur bedauerlich, sondern auch ein wenig ärgerlich ist. Denn „Chiko“ verbaut sich somit den Großteil eines emotionalen Zugangs zu seinen Figuren.

    Chiko (Denis Moschitto) hat das Leben in einem Hamburger Vorort satt. Er schmiedet größere Pläne, will ganz nach oben. Und er weiß auch genau, was er dafür zu tun hat. Mit seinem besten Freund Tibet (Volkan Özcan) drangsaliert er einen Straßendealer, um dadurch die Aufmerksamkeit von Brownie (Moritz Bleibtreu) zu gewinnen, den Drogenkönig schlechthin im Revier. Nach anfänglicher Skepsis ist dieser von Chikos Unnachgiebigkeit und seinem Mut beeindruckt. Er gibt ihm und seinen Freunden eine Chance, sich im Drogengeschäft zu beweisen, doch Tibet fängt nach kurzer Zeit an, sich nicht an die klar gesetzten Regeln zu halten und verspielt somit das anfängliche Vertrauen von Brownie, der fortan nichts mehr von ihm wissen will. Chiko steht plötzlich vor der schwierigen Entscheidung, sich zu seinem besten Freund und der geschworenen Treue zu ihm zu bekennen, oder doch dem lang gehegten Traum nach Respekt und Anerkennung zu folgen, und vollends in Brownies Drogenmilieu einzusteigen. Dies markiert den Beginn einer Gewaltspirale, wo es um Macht und Ehre geht, und der Höhenflug sowie der tiefe Fall folgen, und Chiko selbst irgendwann nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist und ob er sich so sein neues Leben vorgestellt hat.

    Und genau da wären wir schon beim Thema. Denn der Zuschauer kann sich zunächst nie wirklich das alte Leben von Chiko vorstellen, da es so gut wie gar nicht einbezogen wird. Somit interessiert man sich auch erschreckend wenig für das, was dann folgt und der Film seinen Fokus legt: Chikos Aufstieg zum Drogendealer, der Bruch mit Tibet, diverse Machtkämpfe, der große Reichtum, der tiefe Absturz etc. pp. Man fragt sich ständig, woher genau jetzt eigentlich seine Motivation stammt, das was war hinter sich zu lassen, wie es zu diesem Drang nach Anerkennung gekommen sein könnte, und ob man vielleicht irgendwas nicht mitbekommen hat. Aber da ist nichts. Der soziale und somit historische Hintergrund von Chiko wird während der gesamten Dauer des Films kaum behandelt. Für eine Hauptfigur, die ja auch ein gewisses Potenzial an Sympathie für den Betrachter mitbringen muss, ist das fatal. Denn wie bereits erwähnt: Sie wird einem schnell herzlich egal.

    Da hilft auch das bisschen Familie nicht, wenn der Nebenstrang rund um seine Ex-Freundin (oder Frau?) und seiner kleinen Tochter anfangs nur kurz skizziert wird. Man bekommt lediglich mit, dass er keinen Bezug zu seinem Kind hat und lediglich auf seine Drogenkarriere und die Aussichten auf ein besseres Leben (von was jetzt noch mal?) fixiert ist. Im weiteren Verlauf findet dann die Anbindung an diesen einzigen sozialen Hintergrund faktisch nicht mehr statt, nur um ihn am Ende passend zur Läuterung Chikos wieder hervorzuholen. Das kommt aber alles zu spät und wirkt schlichtweg unmotiviert und konstruiert.

    Kurioserweise verlagert sich somit das Interesse auf eine ganz andere Person. Wo Chiko sich für den Betrachter in einem Raum ohne Bezug zur eigenen Vergangenheit und Gegenwart bewegt, und man weiterhin auf der Suche nach Gründen für seine innere Zerrissenheit und dem Wunsch nach Änderung befindet, bekommt Tibet sehr viel mehr Konturen zugeschrieben. Seinem Handeln liegen einfach verständlichere Motive zugrunde. Die angepriesene tiefe Verbundenheit zwischen den beiden Freunden (Brüdern im Geiste) muss hier zwar auch als gegeben hingenommen werden (ein paar Umarmungen und „Alder, krass Mann!“ reichen da nicht aus), aber durch das Einbeziehen von Tibets nierenkranker Mutter und eben Tibet selbst, der sich jeden Tag um sie kümmert und zur Dialyse begleitet, werden wenigstens seine unüberlegten und später auch folgenschweren Aktionen nachvollziehbarer. Er will nicht nur für Ruhm, tolle Autos und hübsche Frauen an das schnelle Geld, sondern um seiner Mutter die lebensrettende Operation zu ermöglichen. Ob er darüber hinaus mit seinem prolligem Gehabe Chiko als sein Vorbild nacheifern will, wird zwar an einer Stelle erwähnt, bleibt aber viel zu undeutlich.

    In einem modernen Gangster-Drama wie hier, bei dem es um Loyalität, Misstrauen und die stille Sehnsucht nach etwas Größerem geht, sind jedoch die Bezüge zum Hintergrund der einzelnen Charaktere immens wichtig, um ihre Handlungen in der Gegenwart überhaupt annehmen zu können. Das leistet „Chiko“ in den meisten Bereichen einfach nicht. Stattdessen setzt er zu viel als gegeben voraus, und fokussiert sich doch sehr stark auf seinen stilistischen Anspruch einer möglichst authentischen Darstellung der Figuren. Das gelingt ihm auch ganz gut. Wobei man sich zunächst schon an die rüde Sprache gewöhnen muss, da hier einem im Sekundentakt Sprüche wie „Fotze“ und „Ich fick dich“ um die Ohren fliegen. Als explizit können ferner einige Gewaltszenen bezeichnet werden, die aber im Kontext des Plots schon Sinn machen.

    Generell wird die Darstellung von Gewalt und Sprache sowie das Leinwanddebüt von Rapperin Lady Bitch Ray so oder so im Vorfeld der Kinopremiere von „Chiko“ sicher noch ausreichend und angestrengt auf hinlänglich bekannten Plattformen diskutiert, analysiert, gelobt und verrissen. Genügend Aufmerksamkeit ist ihm somit gewiss. Und ohne diesen grundlegenden Fehler in der Charakterzeichnung hätten wir es hier sicherlich mit einem sehr viel besseren Film zu tun. Mit „Chiko“ verhält es sich wie mit einem Kartenhaus, dem man die stützenden Pfeiler weggepustet hat - halt ein Fass ohne Boden. Da hilft auch Fatih Akin nicht. Schade irgendwie.

    Interview mit Moritz Bleibtreu

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