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    Holunderblüte
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Holunderblüte
    Von Christoph Petersen

    Der ehemalige DEFA-Regisseur Volker Koepp hat in seiner langen Karriere, die 1971 mit „Schuldner“ begann, bereits mehr als 40 Dokumentarfilme fertig gestellt. Dabei sind es häufig Regionen und ihre Bewohner, die den Filmemacher interessieren – so entstanden Filme wie „Leben in Wittstock“ (1985), „Uckermark“ (2002) und „Pommerland“ (2005). Seit Anfang der 1990er Jahre beschäftigt sich Koepp immer wieder mit seinem Lieblingsthema, dem früheren Ostpreußen: Die Werke „Kalte Heimat“ (1995), „Fremde Ufer“ (1996), „Die Gilge“ (1999) und „Kurische Nehrung“ (2001) sind dabei bisher herausgekommen. Mit „Holunderblüte“ bringt Koepp seinen „Ostpreußen-Zyklus“ nun zu einem Abschluss. Diesmal nähert er sich dem vom Zerfall und politischen Umstürzen geprägten Gebiet aus der Sicht der Kinder.

    Die Gegend des früheren Ostpreußens hat in ihrer Historie eine Menge durchgemacht. Im 13. Jahrhundert holt sich der polnische Herzog Konrad von Masowien den Deutschen Orden zur Hilfe, um die heidnischen Pruzzen zurückzuschlagen. Später vertreibt ein polnisch-litauisches Heer die Deutschen wieder. Es folgen der Dreißigjährige Krieg, die Pest, die russische Besatzung im Siebenjährigen Krieg und Napoleon. Im 20. Jahrhundert nimmt die bewegte Geschichte der Region noch mehr an Fahrt auf. Nach dem Ersten Weltkrieg ist Ostpreußen vom Deutschen Reich abgetrennt, eine Art Insel auf der anderen Seite des „polnischen Korridors“. Das Nationalgefühl wird durch diese Ausnahmesituation gestärkt, die Nationalsozialisten erzielen gute Wahlergebnisse, „Germanisierungsmaßnahmen“ wie das Umbenennen litauisch klingender Ortsnamen werden durchgeführt.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg fällt Ostpreußen als Kriegsbeute an die Sowjetunion. Die Deutschen werden vertrieben, Menschen aus allen Ecken des russischen Reichs werden angesiedelt. Doch der Sowjetunion bedeutet das Gebiet kaum etwas, der langsame Zerfall beginnt. Nach dem Zusammenbruch der UDSSR verstärkt sich dieser Effekt noch. Heute ist die Gegen um Kaliningrad eine russische Exklave zwischen den EU-Staaten Polen und Litauen. Vor allem die ländlichen Regionen leiden unter Armut und Entvölkerung: Selbst der rote Backstein wird von den Häusern abgetragen, um ihn an Neureiche in den Städten zu verhökern. Wer konnte, ist gegangen. Wer nicht, hat angefangen zu saufen. Die einzigen, die in dieser schweren Zeit noch eine Perspektive für sich sehen, sind die Kinder – sie begreifen ihr Leben in den entvölkerten Dörfern als eine Art Abenteuer.

    Hier setzt „Holunderblüte“ an. Koepp lässt die Kinder und Jugendlichen frei zu Wort kommen, ohne sie in irgendeiner Weise anzuleiten. Er fragt weder gezielt nach, noch werden die Szenen pointiert geschnitten. Die Kinder berichten von ihren Abenteuern, Wettrennen und Taubenjagden. Immer wieder hört man, dass sie alle gern in ihrer Heimat bleiben würden, wenn dort nur nicht so viele Betrunkene herumhängen würden. Die Hoffnungen und Ziele sind weitgefächert. Manche wollen Lehrer werden, eine Taubstamme kann sehr gut malen und ein kleiner Junge möchte am liebsten Musik studieren. Auf den ersten Blick ist „Holunderblüte“ also ein froher Film, der einem Mut macht, diese Generation könnte für sich vielleicht eine eigene, bessere Zukunft errichten. Doch im Hinterkopf des Zuschauers spukt stets der Gedanke herum, dass die meisten dieser Träume niemals in Erfüllung gehen, die Mehrzahl der Kinder wegziehen oder wie ihre trinkenden Eltern enden werden. Es ist dieser unüberwindliche Wiederspruch zwischen kindlicher Hoffnung und realen Gegebenheiten, der den Film noch lange Zeit nach dem Verlassen des Kinosaals nachwirken lässt.

    Fazit: Volker Koepps „Holunderblüte“ ist ein extrem bewegendes, zutiefst ehrliches Zeitdokument ohne jeden Anflug von Betroffenheitskitsch - auch für Nicht-Ostpreußen-Fans definitiv einen Kinobesuch wert!

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