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    Little Big Man
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Little Big Man
    Von Hans Riegel

    Betten mit Alten und Kranken, für die sich niemand interessiert. Leere Flure, durch die kaum jemand kommt und geht. Ein schweres Licht, das auf dem Gesicht eines Mannes liegt, der gerade von einem Historiker um ein Interview, einen Zeitzeugenbericht über das „primitive Leben der Indianer“ angehalten wird. Doch dieser Mann ist mit seinen 121 Jahren nicht nur ein Freund der primitiven Indianer, der einzigartigen Einblick in ihre Lebensgewohnheiten hatte, sondern „ganz ohne Zweifel der letzte Oldtimer“, wie er sagt. Jack Crabb, der „einzige weiße Überlebende der Schlacht am Little-Bighorn“, die bekannt wurde als General George Armstrong Custers letzter Standort. Heute sitzt er in einem Altenheim und gibt neunmalklugen Forschern Informationen aus erster Hand. Als ihn besagter Historiker über die Ausrottung der Indianer, den so zu bezeichnenden „geplanten Völkermord“, unterrichten möchte, öffnet ihm das Wissen um die eigentlich Wahrheit den Mund: Er erzählt die Geschichte seines ereignisreichen Lebens, die Geschichte auch der primitiven Indianer.

    Arthur Penns Monumentalfilm „Little Big Man“ ist von Beginn an durch eine fremde Sicht der Dinge geprägt. Gemäß den Maßstäben des „New Hollywood“ war er bestrebt, tradierte Genres zu hinterfragen, Sehgewohnheiten auszuloten und zu novellieren. Es war maßgeblich, neue, frische Themen wie auch ältere in einer kritisch aufbereiteten Weise an den Zuschauer zu bringen. Das Sujet nun seines 1970 erschienenen Films ist gleichsam ein uramerikanisches. Es handelt von der Zeit sich ausbreitender Siedlerströme und von den Indianerkriegen (ca. 1820 - 1890) in den heutigen USA. Schon die Romanvorlage gleichen Titels, „Little Big Man“, von Thomas Berger setzt sich kritisch wie zynisch mit dieser Thematik auseinander. Die Adaption des Buches übernahm der Drehbuchautor Calder Willingham, welcher unter anderem bereits für filmische Meilensteine wie Wege zum Ruhm (1957) oder Die Reifeprüfung (1967) die Feder schwang. Und wie Willingham mit seiner Arbeit, so beginnt auch Jack Crabb die Erzählung seiner Lebensgeschichte vorn.

    Im Alter von zehn Jahren seien er, seine ältere Schwester Caroline (Carol Androsky) und sein Vater von einer Horde wilder Indianer überfallen und dabei sein Vater gar getötet worden. Er und Caroline seien daraufhin von einem Cheyenne, den wir später als Shadow That Comes In Sight (Ruben Moreno) kennen lernen, in seine Siedlung mitgenommen worden. Dort habe Häuptling Old Lodge Skins (Chief Dan George) sich seiner als eine Art Großvater, wie er ihn später auch nennen sollte, angenommen; Caroline ihrerseits sei in Angst um ihre weiblichsten Teile vor den Indianern geflohen. - In dieser Weise begann Jack Crabb sein langes Leben nachzuerzählen. - Als Junge boten ihm die weitläufige Prärie und die zahlreichen indianischen Spielkameraden, die ihn als ihresgleichen angenommen hatten, jedwede Möglichkeit, sich gemäß den Bedürfnissen eines heranwachsenden Jünglings auszutoben.

    Doch mit der Zeit wurde auffällig, dass Jacks Wachstum in einem selbst für Menschenwesen, so die Selbstbezeichnung der Cheyenne, frühen Stadium schon aufzuhören schien und er unter seinen Altersgenossen, als „kleiner Junge“ verschrien, nicht mehr als ebenbürtig akzeptiert wurde. Durch diese Umstände betrübt, suchte Jack bei seinem Ziehgroßvater Old Lodge Skins Beistand und erfuhr, wie einst ein kleiner Indianer, dessen Namen treffend auf Little Man lautete, in einer märchenhaften Schlacht größte Tapferkeit und unbändigen Mut bewiesen habe, und dass auch für ihn, Jack, die Körpergröße nicht wesentlich sein solle, denn auch er habe großen Mut.

    Es ereignete sich, was unter Indianerstämmen nicht unüblich ist: ein kleines Scharmützel mit einem verfeindeten Stamm; mal wieder „ein guter Tag zum Sterben“. Dabei ereignete sich weiterhin, was für Jack Crabb in seinem weiteren Leben von Zeit zu Zeit eine kleine Rolle spielen sollte: er rettete seinem Stammesbruder Younger Bear (Cal Bellini) das Leben. Das wiederum zwang diesen in eine Lebensschuld bei dem von ihm verachteten Bleichgesicht. Als der Rest des Dorfes, allen voran der fürsorgliche Old Lodge Skins, dessen Herz bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Falke in die Lüfte steigt, von der Heldentat erfuhr, wurde alsbald Jacks Übergang in die Männerwelt zelebriert. Er erhielt, und auch hier mochte nomen est omen gelten, den Namen Little Big Man.

    Unverhofft sehen sich die Menschenwesen in einen Krieg mit den bleichgesichtigen Soldaten getrieben, die immer mehr vom Land der Indianer für sich erzwingen. Als Little Big Man (jetzt: Dustin Hoffman) sich, nur unter Aufbietung all seiner verbliebenen Bleichgesichtsmarotten, vor dem Tod durch den soldatischen Feind retten kann, dabei aber den Anschluss an seinen Stamm und damit die Möglichkeit zur Rückkehr in das Indianerdorf verliert, beginnt für ihn ein neues Leben, ein Leben unter Weißen. Die Soldaten, denen er sich mit den Worten „Gott schütze George Wahshington; Gott schütze meine Mutter“ und dem anschließenden erläuternden Kommentar „so etwas Blödes würde ein Indianer doch nie sagen!“ als einer der ihren zu erkennen geben sucht, halten ihn ob seiner Größe für einen Knaben, und so geben sie ihn in einer Stadt in die Obhut des Priesters Pendrake und seiner bigotten Frau (Faye Dunaway): in die starken Hände, in den starren Griff des christlichen Glaubens, den die Siedler so pflegen.

    Wiewohl formal zwischen der Welt der Menschenwesen und der weißen Welt große Unterschiede feststellbar sind, bestehen doch Gemeinsamkeiten, derer sie sich nicht rühmen können: Sowohl die - zugegebenermaßen friedfertigen - Menschenwesen, die einen pantheistischen Glauben praktizieren als auch die Bewohner der vom Christentum gebeutelten Welt der Priestersfrau Pendrake sind von der wahrhaftigen Richtigkeit ihrer Ansichten dermaßen überzeugt, dass das jeweils Fremde nicht nur auf Toleranzprobleme stößt, sondern vielmehr als falsch und auszurotten gilt. Arthur Penn stellt in seinem Film diese Welten gegenüber; er zeigt - basierend auf dem Roman - Gemeinsames auf: spielt hier mit Jacks tragischen Erlebnissen; er legt ebenso offen, was die Welten voneinander trennt, weshalb sie unvereinbar waren: Dort werden ironische Kommentare eingeflochten, dort entstehen die komischen Momente.

    Dieser teils instinktiven, teils eingeimpften Intoleranz folgend, wird Jack in beide Bedeutungsuniversen eingeführt und muss schließlich aus beiden, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, fliehen. Er wurde durch sein Schicksal zum Mischwesen, ist Mensch weder noch Menschenwesen. Überdies scheint die Welt der Indianer im Untergang begriffen und auch Mrs. Pendrakes Christentum offenbart sich als heuchlerisches Scheingebilde, das nur allzu einsturzgefährdet ist, - sich allerdings gut liest.

    Auf welche Pfade sich Jack nach seiner Glaubensflucht begibt, wohin er verschlagen, mit wem er Bündnisse eingehen wird, wen er wie und wann wiedersieht, das soll an jetziger Stelle nicht und nicht an anderer in dieser Rezension entschleiert werden; nur dass sein Leben unvorhergesehen bleibt, das soll gesagt sein.

    Das überaus interessante, abwechslungsreiche und - alles andere in den Schatten stellend - lange Leben Jack Crabbs bietet Dustin Hoffman den Raum, sein schauspielerisches Repertoire groß in Szene zu setzen, - er ist, trotz aller schicksalhaften Wendungen, unangefochten das dominante Agens des Epos, und überzeugt (wenn für den jugendlichen Jack auch etwas zu alt) in jeder Situation. Die Länge der erzählten Zeit bietet weiterhin Arthur Penn in der Realisierung von Willinghams Drehbuch ungeheuer viele Gelegenheiten, an der einen oder anderen Stelle mal versteckte, mal offensichtliche Seitenhiebe zu verteilen. So spricht Old Lodge Skins einmal von den schwarzen weißen Männern, die zwar nicht ganz so hässlich, dafür aber genauso verrückt seien, wie diejenigen, die sein Land durchkreuzen. Eben so ist Jack als eigentlich Weißer auch der objektivere Beurteiler der Menschenwesenwelt, in der es sich beispielsweise für einige junge Cheyenne schickt, „Kontra“ zu sein; das sind junge Männer, die alles, auch das Sitzen auf dem Pferd, auch den Wahrheitsgehalt einer Aussage, ins Gegenteil kehren, um damit einem gewissen Modetrend zu folgen. Darin ist eine Persiflage der für den weißen Mann fremden Welt der Cheyenne erkennbar, wie sie es gleichfalls ist, wenn der alte Häuptling Schwarz und Weiß so wunderbar leichtfertig in einen Topf schmeißt.

    Mit allen diesen Neubewertungen, dem Zynismus, mit dem auch der ehemalige Kriegsheld (heute Völkermörder) General Custer völlig überzogen dargestellt und trotz seiner schauderhaften Taten bodenlos ins Absurde getaucht wird, lässt uns der Regisseur am Ende seines Films allein. „Little Big Man“ endet mit einer Kamerafahrt durch die Räume des Altenheims, in dem Jack nun lebt, und obwohl der Schluss der Erzählung zuvor eingeleitet, ist das Ende abrupt. Arthur Penn lässt den Zuschauer allein mit seinen Gedanken, lässt ihn sein eigenes Urteil fällen, lässt zu, dass über seine Bewertung der Geschichte, über seine Ironie und seine Tragik hinaus noch etwas für den Einzelnen bleibt, nämlich die Möglichkeit, aus Fakten und aus Überlieferungen, aus Glauben und aus Mythen schließlich ein eigenes Bild zu schaffen: eine Meinung. Wie historisches Erbe verstanden wird, hängt untrennbar mit der Interpretation der Geschichte selbst zusammen. Mit diesem filmischen Werk wurde etwas Neues geschaffen: eine neue Sicht. Arthur Penn hat eine großartige Leinwandrevolution des US-amerikanischen Selbstverständnisses verwirklicht, seine Revolution, und wir leben heute nur im Danach, und wir sind es, die daraus profitieren.

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