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    Young@Heart
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Young@Heart
    Von Anna Lisa Senftleben

    Schon immer waren es die Gegensätze des Lebens, die besonders faszinieren. Der Anblick eines Kleinwüchsigen ist dann besonders spannend, wenn er zwischen den längsten Beinen der Welt steht. Rüstige Rentner sind beispielsweise dann leinwandtauglich, wenn sie als Chor mit einem Durchschnittsalter von 75 Jahren auf der Bühne Rocksongs schmettern. Noch nicht interessant genug? Und eine Oma auf ihren Rollator gestützt über die Bühne rockt und heiser David Bowies „Golden Years“ ins Mikrofon brüllt?! Wer glaubt, dass die alte Dame dabei ihr Stützstrümpfe verliert und im Anschluss direkt in die Notaufnahme eingeliefert wird, kennt den Young@Heart-Chor noch nicht. „Expect The Unexspected“ lautet demzufolge auch das Motto der Rockrentner. Die Dokumentation „Young@Heart“ des Filmemachers Stephen Walker führt ihrem Publikum den krassen Kontrast zwischen Rentnern und Rock’n’Roll vor Augen. Über sechs Wochen lang begleitete der britische Regisseur 2006 den außergewöhnlichen Chor aus Northampton, Massachusetts, bei den Proben für das neue Show-Programm „Alive And Well“.

    Eileen Hall, 93 Jahre jung, steht, auf ihren Gehstock gestützt, mitten im Scheinwerferlicht im ausverkauften Festsaal ihrer Heimatstadt Northampton. Ihr Alter sieht man ihr an, faltig und krumm gebückt steht sie auf der Bühne. Man mag seinen Augen und vor allem Ohren kaum glauben, als sie mit ihrer unerwartet rockigen Interpretation des „The Clash“-Songs „Should I Stay Or Should I Go“ den Saal zum Toben bringt. Regisseur Walker versteht es, dem Zuschauer das Besondere an diesem Chor bereits in den ersten Filmminuten zu vermitteln: Sofort ist zu spüren, dass diese Rentner nicht bereit sind, ihren letzten Lebensabschnitt mit Bettpfannen und Bridge-Abenden zu verplempern. Walker lässt den Zuschauer sechs Wochen am Leben der Young@Heart-Mitglieder teilhaben – in Bezug auf das Alter der Sänger, das zwischen 75 und 93 Jahren pendelt, ein verdammt kurzer Abschnitt. Doch die zeitliche Begrenzung des Einblicks war die richtige Wahl. Ohne sich lange mit der Entstehungsgeschichte des Chors oder Archiv-Aufnahmen aufzuhalten, zeigt Walker anhand von persönlichen Porträts und den Proben für die neue Show, was den speziellen Geist des Chors ausmacht: Humor und jede Menge Selbstironie. Das wird schon bei der Auswahl der Stücke deutlich: „Road To Nowhere“, „Stayin’ Alive“, „Golden Years“ und „I Wanna Be Sedated“ bekommen durch die eigenwillige Interpretation des „Oldie-Chores“ eine ganz neue Bedeutung.

    In „Young@Heart“ paart Walker - typisch britisch – einen ironischen Unterton in seinem Voice Over mit augenzwinkernden Szenen wie etwa den mühseligen Proben für das James-Brown-Duett „I Feel Good“ – gesungen von dem 77-jährigen Stan Goldman, der schwer rückenkrank und besonders schlecht im Textmerken ist, und der 83-jährigen Dora Morrow, einer 23-fachen Großmutter, der noch der richtige Rhythmus fehlt. Urkomisch sind auch die Szenen, in denen die Doku die „drei Musketiere“ des Chores – Eileen, Lenny und Joe - auf dem Weg zu den Proben begleitet. Am Steuer: der 87-jährige Lenny, der neben seiner Chortätigkeit noch wandert, Rennrad fährt und Mundharmonika spielt. Lacher erntet der Film auch, wenn sich der Chor beim besten Willen die über 70 „Cans“ aus Allen Toussaints „Yes We Can Can“ nicht einprägen will und damit Chorleiter Bob Cilman in den Wahnsinn treibt.

    Entstanden ist das unorthodoxe Projekt 1982, als der heutige Chorleiter Bob Cilman einen neuen Job in einem Seniorentreff annahm, dessen Bewohner fast alle noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten. Aus harmlosen Gesangsstunden, die Cilman zunächst am Klavier begleitete und die sich aus einem Repertoire aus Zwanzigerjahre-Swingmusik und bestenfalls noch Sinatra-Songs zusammensetzten, entwickelte Cilman aus Neugierde das heutige Konzept des Chores: „Grandmum Rocks You!“ Seitdem tourt der Young@Heart-Chor mit einem Programm für die Jugend von heute erfolgreich durch die Staaten und Europa. Wenn Bob Cilman die Songs für das neue Programm vorspielt, holen die Chormitglieder schon mal die Ohrstöpsel hervor: Sonic Youth und David Bowie hört man halt mit Mitte 80 privat nicht mehr.

    Ein wenig unerfreulich, obwohl auch hier der selbstironische Unterton beibehalten wird, sind die zwischengeschnittenen und extra für den Film inszenierten Video-Clips im MTV-Stil. Das sonst so stimmige Bild einer erfrischend witzigen Doku über die Lebenskraft der Musik wird in diesen grell-bunten Clips doch etwas gestört. Wenn Fred Knittle im Dandy-Look durch die Bowling-Bahn schwankt und „Stayin’ Alive“ dahinschmettert, wirkt das ziemlich aufgesetzt und ein bisschen zu dick aufgetragen. Kurz gesagt: Das hat der Film gar nicht nötig! Die Protagonisten, ihre Geschichten und vor allem ihre musikalischen Darbietungen hätten völlig ausgereicht, um die Doku „Young@Heart“ zu einem sehenswerten Film zu machen. So lebensbejahend der Film insgesamt auch ist, das biblische Alter der Chormitglieder verhindert eine Ausklammerung des Tods und auch diesem Thema stellt sich Stephen Walker auf eine keinesfalls zu kitschige Art. Trotzdem sei der Zu-nah-am-Wasser-Gebaute schon vorab gewarnt: Unbedingt Taschentücher einpacken!

    Fazit: Die Energie, die die Young@Heart-Mitglieder noch in ihren alten Knochen haben ist faszinierend. Da juckt es manches Mal tatsächlich in den Beinen und man muss sich fast zwingen, nicht aus dem Kinosessel zu springen und bei Hits wie „Stayin’ Alive“ oder „Road To Nowhere“ mitzuswingen. Zwar trägt Walker – insbesondere bei den Musik-Clips – etwas zu dick auf, dennoch ist „Young@Heart“ eine zweistündige musikalische Reise, die mit viel Humor und Selbstironie einfach Spaß macht. Und wünscht sich nicht ein jeder, mit 80 Jahren und einem künstlichen Hüftgelenk noch über die Bühne zu rocken?

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