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    Wolke 9
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wolke 9
    Von Sven Maier

    Bestimmte Themen scheinen einer Gesellschaft sehr unangenehm zu sein. So sehr, dass sie schlichtweg ausgeblendet werden, man über sie häufig nicht einmal zu reden wagt. Eines dieser Themen – Liebe und Sexualität im Alter – hat sich der deutsche Arthouse-Liebling Andreas Dresen (Halbe Treppe, Sommer vorm Balkon, Willenbrock) in seinem Drama „Wolke Neun“ vorgenommen – und gewann damit prompt den „Coup de Cœur“-Preis („Herzschlag“) in der Reihe „Un Certain Regard“ bei den Filmfestspielen in Cannes.

    Inge (Ursula Werner) ist Mitte 60. Sie verdient sich ein Zubrot als Änderungsschneiderin und singt regelmäßig in einem Chor. Mit ihrem Mann Werner (Horst Rehberg) ist sie bereits seit 30 Jahren glücklich verheiratet. Doch dann lernt sie den 76-jährigen Karl (Horst Westphal) kennen und landet mit dem rüstigen Rentner im Bett. Von diesem Moment an ändert sich Inges Leben von Grund auf. Während ihre Tochter Petra (Steffi Kühnert, Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe) den Zusammenbruch der Familie fürchtet, sollte Werner etwas von der Affäre seiner Frau erfahren, ist Inge zwischen den beiden Männern hin und her gerissen…

    Hören wir auf zu lieben, nur weil wir ein bestimmtes Alter erreicht haben? Die beiden Männer in Inges Leben stehen stellvertretend für zwei vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe: Der ältere Karl ist immer noch sportlich aktiv, fährt viel Rad und geht schwimmen. Werner ist hingegen der Bodenständige, der sich sehr für Lokomotiven interessiert und für sein Leben gerne Bahn fährt – ein „Spaß“, den Inge schon lange Jahre mitmacht, dem sie aber selbst nicht sonderlich viel abgewinnen kann. Inges Leben mit Werner scheint passiv geworden zu sein, ganz im Gegensatz zu Karls kraftvoller, aktiver Art, die sie sich wieder wie ein junges Mädchen fühlen lässt. Doch nach 30 Jahren Ehe, in denen sich längst ein starrer Ablauf zwischen den Partnern eingefahren hat, fällt es Inge schwer, sich Werner gegenüber zu öffnen – die Angst, alles zu zerstören, hält sie zurück.

    Dresens Film stellt die richtigen Fragen und punktet mit glaubhaften Charakteren. Dies liegt in erster Linie an den gut ausgewählten Darstellern, die sehr viel Erfahrung und vor allem Mut mit eingebracht haben. „Wolke Neun“ geht mit viel Humor, aber auch dem nötigen Ernst an seine Thematik heran. Der Film entstand aus einem sehr reduzierten Skript, die fertigen Szenen entwickelten sich zumeist erst beim Dreh aus der Zusammenarbeit von Schauspielern und Crew. Diese Herangehensweise macht den Film zu einem kleinen Experiment, das den Darstellern eine sehr exponierte Rolle zukommen lässt. Einer der humorvollen Höhepunkte dieser Improvisation ist Inges bierernst vorgetragene Forderung, dass Soldaten weltweit abgeschafft werden sollten. Besonders Werners Reaktion, ein kurzer mitleidiger Blick, ist unbezahlbar.

    Ursula Werner transportiert Inges Zwiespalt glaubhaft und hat von Anfang an die Sympathien des Publikums auf ihrer Seite. Ihr gelingt es hervorragend, Inges Sehnsucht, ihr Verlangen, aber auch ihre Naivität auszudrücken. Die männlichen Charaktere sind nicht weniger überzeugend. Horst Regbergs Werner ist die spannendste und zugleich tragischste Figur des Films, weil die Gefühle des introvertierten Bahnfans erst nach und nach ans Tageslicht dringen. Einzig Tochter Petra bleibt etwas zu undurchsichtig – und deshalb auch unglaubwürdig. Sie rät der Mutter, Stillschweigen zu bewahren und die Affäre zu genießen. Inge solle sich freuen, ein Seitensprung sei ja etwas völlig Normales und Schönes, von dem keiner etwas wissen müsse. Wie genau sie dies meint und ob sie selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht hat, bleibt leider außen vor.

    Die ausführlichen Sexszenen, die in keinster Weise Hollywoods ästhetischen Ansprüchen genügen, sind absolut notwendig, da der Film das Leben seiner Protagonisten nun einmal so authentisch wie möglich vorführen will. „Wolke Neun“ verklärt nichts, alles wird offen und ehrlich gezeigt. Die Körper sind zwar gealtert, doch die Gefühle sind noch immer die gleichen – es ist also nichts Schlimmes dabei. Es ist Dresens Anliegen, einer oft übergangenen Generation Bilder zu geben, die das Leben widerspiegeln, wie es ist, ohne etwas auszublenden oder zu sehr zu betonen. Daher kommt der Film größtenteils auch ohne musikalische Untermalung aus. Die Gefühlswandel, die Inge im Verlauf der Handlung durchmacht, werden lediglich durch tragische und romantische Lieder untermalt, die sie mit ihrem Chor singt (zum Beispiel: „Tanz mit mir in den Morgen“).

    Einer jüngeren Videoclip-Generation mag dieses Liedgut wie eine absurde Unterbrechung des Geschehens vorkommen, doch passt es sich nahtlos in das restliche Bild von Inge, Karl und Werner ein – Charaktere, die nicht nur sich selbst repräsentieren, sondern eine ganze Altersgruppe, die in Film und Fernsehen viel zu lange ein Nischendasein als gutmütige Omas und Opas fristete. Eine ehrliche Offenheit, wie „Wolke Neun“ sie ausstrahlt, kann man sich daher nur häufiger wünschen. Denn auch die Alten, so lernen wir, haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie die folgenden Generationen: mit Ungewissheit, mit Einsamkeit, mit Liebeskummer und mit ungestilltem Verlangen. Sie müssen wie alle mit den Konsequenzen ihres Handelns leben und sind trotz aller Lebenserfahrung immer noch in der Lage, grobe Fehler zu begehen.

    Ein grundlegendes Problem von „Wolke Neun“ liegt in der geschürten Erwartungshaltung. Überrumpelt von der Freizügigkeit und Offenheit, mit der das Thema angegangen wird, denkt der Zuschauer zunächst, er hätte so etwas noch nie gesehen. Im Film kommt es zu Beginn zwischen Inge und Karl ohne Umschweife zur Sache, erst im Nachhinein wird der zugrunde liegende Konflikt immer deutlicher herausgearbeitet. Dabei wird deutlich, dass der Film letztendlich – zwar durchaus nicht unmotiviert, aber deshalb nicht minder enttäuschend – doch auf ein sehr klassisches Erzählmuster zurückgreift. Man hat es alles eben doch schon x-mal gesehen – nur nicht mir Protagonisten diesen Alters. „Wolke Neun“ ist deshalb im Endeffekt doch nur ein klassisches Beziehungsdrama mit einer viel zu klassischen Auflösung.

    Der Geschichte geht deshalb gen Ende auch ein wenig die Luft aus. Die Handlung wird immer vorhersehbarer und ist deshalb nur noch wenig spannend – das größte Manko eines Films, der bis dahin gut funktioniert. Dass der Film am Schluss in ein Klischee abrutscht, wäre vielleicht vermeidbar gewesen, doch Dresen wollte halt zeigen, dass sich Gefühle im Alter immer noch gleich abspielen und hat sich deshalb eines – aus zahlreichen Eifersuchtsdramen - bekannten Motivs bedient. Dagegen bleibt allerdings einzuwenden, dass sich der Film selbst zu Beginn nicht hundertprozentig ernst zu nehmen scheint. Das Thema wird zunächst mit einer Prise Humor umspielt, wobei diese Lockerheit nun nach und nach verloren geht. Anfang und Ende beißen sich deshalb nun leider ein wenig.

    Fazit: „Wolke Neun“ richtet sich nicht nur an Menschen jenseits der Sechzig. Auch ein jüngeres Publikum könnte sich für das romantische Drama interessieren – schließlich zeigt es, dass Liebe keine Frage des Alters ist. Die Gesellschaft in Deutschland wird immer älter. Deshalb ist es an der Zeit, dass dieser immense Bevölkerungsteil endlich seine eigenen Bilder bekommt, mit denen er sich identifizieren kann. Deshalb muss man Andreas Dresens Film als gelungenes Experiment und richtigen Schritt in die richtige Richtung loben, der zum Nachdenken anregt und trotz kleinerer Schwächen über weite Strecken gut zu unterhalten weiß.

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