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    La Bohème
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    La Bohème
    Von Christian Schön

    Die Oper ist tot – lang lebe die Oper! Man könnte meinen, dass die Zeiten der alten Dame der gepflegten Samstagabendunterhaltung vorüber sind. Die Oper war eigentlich das Massenmedium des 19. Jahrhunderts, von Wagner gar zum Gesamtkunstwerk erhoben. Das Kino, und in der Folge das Fernsehen, welches das Gesamtkunstwerk in einem kleinen Kasten jederzeit verfügbar machte, löste die Oper in ihrer ursprünglichen Funktion ab. Wirft man hingegen heute einen Blick in die Opernhäuser, ist festzustellen, dass die Plätze nach wie vor hoch begehrt sind, der Hype um Bayreuth Jahr um Jahr anhält und die Inszenierungen sich zum Teil um Aktualität bemühen, wie man es sonst nur von der Theaterbühne gewohnt ist. Nichts läge demnach eigentlich ferner, die Oper ins Massenmedium der Moderne, das Kino, zu transferieren. Umso erstaunlicher ist es, dass es bisher kaum ambitionierte Versuche in dieser Richtung gab. Robert Dornhelms „La Bohème“ kann nicht nur mit einer Starbesetzung in Person von Opernstar-Pärchen Anna Netrebko und Rolando Villazón aufwarten, sondern operiert mit einer ganz eigenen Ästhetik, die an Tim Burtons Musical-Thriller Sweeney Todd erinnert.

    Paris im ausgehenden 19. Jahrhundert. Weihnachten steht vor der Tür. Die vier Künstler Rodolfo (Rolando Villazón), Marcello (George von Bergen), Schaunard (Adrian Eröd) und Colline (Vitalij Kowaljow) teilen sich eine kleine Wohnung und versuchen so gut wie möglich, mit ihren bescheidenen Mitteln zurechtzukommen. Hoffnung keimt auf, als der Musiker Schaunard, der einen Auftrag bekommen hat, mit Lebensmitteln und ein wenig Geld nach Hause kommt. Die Feiertage scheinen gerettet zu sein. Als sie sich in das Lokal Momus aufmachen, um zu feiern, bleibt Rodolfo unter dem Vorwand noch ein paar Zeilen an einem Artikel schreiben zu wollen, in der Wohnung zurück. Die schwer kranke Nachbarin Mimi (Anna Netrebko) schaut vorbei, um sich Feuer für ihre erloschene Kerze zu erbitten. Sie kommen ins Gespräch und verlieben sich unsterblich ineinander. Wenig später im Momus trifft Marcello auf seine Verflossene Musetta (Nicole Cabell), die mit ihrem neuen, erheblich älteren Liebhaber dort aufkreuzt. Die Liebe zwischen Musetta und Marcello flammt erneut auf, und die beiden kommen wieder zusammen. Ein Monat nach dem Weihnachtsabend ist die Stimmung jedoch wieder auf dem Nullpunkt. Die Kasse ist erneut leer, Mimis gesundheitlicher Zustand hat sich enorm verschlechtert und Musetta beginnt wieder mit anderen Männern zu flirten. Kann die Liebe der beiden Paare unter solchen Bedingungen bestehen?

    Die „Film“-Handlung ist gemäß der Vorlage in vier Bilder aufgeteilt. Das erste Bild spielt in der Wohnung der Künstlergemeinschaft, das zweite im Momus, das dritte nahe der Stadtmauer, wo die Protagonisten nach einem Monat wieder aufeinander treffen. Im vierten und letzten Bild kehrt das Personal zum Ausgangspunkt, in die Wohnung der vier Freunde, zurück. Da die Vorstellung nicht nur ohne Pause und Sekt stattfindet, sondern auch der Vorhang im Kino zwischendurch nicht fällt, wurden die vier Bilder nacheinander, ohne spezielle Markierung, zusammengesetzt. Sie erscheinen wie Fragmente einer längeren, zusammenhängenden Geschichte, die dem Zuschauer nur in repräsentativen, schlaglichtartigen Ausschnitten vor Augen geführt wird.

    Die vorherrschende Stimmung während des gesamten Films besteht aus einer Mixtur aus den drückend deprimierenden, widrigen Lebensumständen und der dazu im Gegensatz stehenden Sucht nach purem Leben und Genuss. Damit erinnert „La Bohème“ sehr stark an die Literatur der Zeit der Décadence des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Während dieser geistesgeschichtlichen Epoche entstand die Oper nicht nur, auch deren Handlung ist hier zeitlich angesiedelt. Die Detailverliebtheit, mit der die Szenenbildner die Interieurs und die Schauplätze der Straßenszenen ausstaffiert haben, verdient in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung. Nur so konnte ein dermaßen klischeehaft-pittoreskes Paris dieser Zeit entstehen, das trotz leichter Überzeichnung absolut stimmig ist und das vor allem eine zur verfilmten Oper passende Atmosphäre schafft.

    Die krasse Künstlichkeit, die in „La Bohème“ herrscht, hat durchaus System. Ingeborg Bachmann beschrieb die Akteure der Opernbühnen in ihrem Text „Die wunderliche Musik“ folgendermaßen: „Geglaubt werden ihnen nur die Töne. Ihre nachdrücklichen Schritte, ihre monströsen Handlungen, ihr Lächeln, ihre Gefühle nicht. Am allerwenigsten die Worte, die sie zerdehnen und raffen nach Belieben, im Legato, im Tremolo, im Triller.“ Die Art der Künstlichkeit wie sie hier beschrieben wird, ist im Film „La Bohème“ verglichen mit Operninszenierungen nur noch reduziert vorhanden. Sicherlich fassen sich die Darsteller an emotional aufgeladenen Momenten noch inbrünstig ans Herz, verzerren ihre Gesichter voller Leidenschaft oder kauern ostentativ am Boden. Trotzdem erscheinen sie vielmehr als authentische Charaktere als ihre Brüder und Schwester im Opernhaus.

    Doch „La Bohème“ ist rein stilistisch alles andere als dem Realismus verpflichtet. Die Künstlichkeit hält allerdings auf anderem Wege in den Film Einzug, als über die Schauspielerei. Die Ästhetik ist vielmehr eine, mit der man derzeit von Comicverfilmungen (wie zum Beispiel 300) her vertraut ist. Insgesamt ist der Kontrast der körnigen Bilder enorm angehoben und wird an manchen Stellen ins Extrem gesteigert. Szenen, die in der Erinnerung von einzelnen Figuren spielen oder als Ein- oder Überleitung dienen, erscheinen in Schwarz-Weiß, wobei an exponierten Stellen krasse Farbakzente eingebaut sind, wie man es aus Sin City kennt. Wie exakt hier kalkuliert wurde, zeigt sich auch daran, dass solche visuellen Änderungen, zum Beispiel zwischen Schwarz-Weiß und Farbe, passgenau zur einsetzenden Musik montiert wurden. Mit den filmischen Mitteln wurde hier ähnlich umgegangen, wie ein Tonsetzer seine Noten kalkuliert aufs Papier setzt. Regisseur Dornhelm versteht sein Handwerk analog zur Musik – der Film „La Bohème“ erscheint ebenso komponiert wie die zugrunde liegende Partitur.

    Fazit: In Robert Dornhelms „La Bohème“ hält Giacomo Puccinis Oper spektakulär Einzug ins Kino. Die großartige Besetzung und die Aufnahmen aus der Münchner Philharmonie sorgen für höchste musikalische Güte. Dazu findet Dornhelm eine Bildersprache, die es dem Zuschauer ermöglicht, den Rausch der Musik zugleich visuell zu erfahren.

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