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    Der Architekt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der Architekt
    Von Andreas Staben

    Der Architekt sei privilegiert, könne er doch gleichsam durch die eigenen Gedanken spazieren. Beim Gang durch seine zu Gebäuden gewordenen Ideen habe er außerdem die Chance, die Richtigkeit dieser Gedanken zu überprüfen. Mit diesem schönen Bild bedankt sich die Titelfigur des Familiendramas „Der Architekt“ für eine ihr zugesprochene Auszeichnung. Regisseurin und Co-Autorin Ina Weisse lässt den Protagonisten mit diesen Worten eine Art Programm für ihren Film formulieren, denn die Infragestellung von Plänen und Entwürfen erweist sich als das zentrale Thema von „Der Architekt“. Mit schonungslosem und dennoch liebevollem Blick legt Weisse Halbwahrheiten und Lebenslügen, Ängste und Komplexe frei. Vor der eindrucksvollen Kulisse einer winterlichen Berglandschaft brechen unerfüllte Sehnsüchte und tiefsitzende Gefühle hervor. Die komplexe Dynamik der Familienbeziehungen entfaltet sich in einer intensiven Atmosphäre, in der durch Bildgestaltung und Musik immer wieder eindringliche Akzente gesetzt werden. Das Herzstück von „Der Architekt“ ist jedoch die Besetzung. Weisse, die selber vor ihrem Regiestudium als Schauspielerin vor der Kamera (Nichts als Gespenster, Schneeland) und auf vielen großen deutschen Bühnen stand, führt ihre Darsteller zu einer in dieser Einheitlichkeit selten zu sehenden herausragenden Ensembleleistung. Im nuancierten Zusammenspiel erhält „Der Architekt“ emotionale Wahrhaftigkeit und Wirkung. Dieses so mit Leben erfüllte und zugleich sorgfältig konstruierte filmische Gebäude ist ein großer Wurf.

    Der Hamburger Architekt Georg Winter (Josef Bierbichler) erfährt vom Tod seiner Mutter, zu der er schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Nur auf Drängen seiner Frau Eva (Hilde von Mieghem, Der alte Affe Angst) ist er schließlich bereit, die Beerdigung zu besuchen. Das Paar macht sich gemeinsam mit den beiden erwachsenen Kindern Reh (Sandra Hüller) und Jan (Matthias Schweighöfer) per Auto auf den langen Weg in die Alpen. Im entlegenen Bergdorf seiner Kindheit muss sich Winter der Vergangenheit stellen. Er trifft die alte Freundin Hannah (Sophie Rois, Liegen lernen) wieder, die mittlerweile einen Sohn (Lucas Zolgar) hat, und auch die Testamentseröffnung hält Unerwartetes bereit. Nach einer Schneelawine ist der Rückweg versperrt und eine Flucht unmöglich. In dem isolierten Ort werden die Familienbeziehungen auf die Probe gestellt und das mühsam errichtete Lebensgebäude des Architekten droht einzustürzen.

    Ina Weisse beginnt ihren Film mit einer weißen Leinwand. Ganz allmählich sind in einer stürmischen Schneelandschaft die Konturen einer Person zu erkennen, die sich mühsam vorwärtskämpft und so immer näher kommt. Abgesehen von einem starken dramatischen Anfang hat die Regisseurin hier gleich ein symbolkräftiges Bild für die Situation der Haupt- und Titelfigur gefunden. Die auf den Zuschauer zukommende Hannah taucht gleichsam aus der verdrängten Vergangenheit des Georg Winter auf. Als sie ihn wenig später anruft, benötigt der Architekt im fernen Hamburg eine ganze Weile, um zu verstehen, wer da mit ihm spricht. Und die Nachricht vom Tod der Mutter will er gar nicht erst an sich heranlassen. Vielmehr scheint Josef Bierbichler (Winterreise, „Hierankl“, Im Winter ein Jahr) zunächst seinem Image entsprechend die Rolle der grantelnden Naturgewalt zu variieren. Wenige kleine Szenen genügen ihm, um eine wenig diplomatische Persönlichkeit mit dominierender Ausstrahlung zu etablieren. Aber der Zweifel hinter der Fassade ist von Anfang an spürbar, wenn er etwa den Small Talk auf der Preisverleihung unangenehm eskalieren lässt oder auf einer Großbaustelle Tacheles redet. In Hamburg flüchtet Winter sich noch in starke Worte und Getränke, in der Umgebung seiner Kindheit ergreift ihn dann immer mehr Sprach- und Hilflosigkeit. Der Rückzug in die trügerische norddeutsche Routine ist scheinbar sein einziger Ausweg, die Kraft zur Veränderung fehlt ihm. Immer wieder bittet er die Familie, ihm zuzuhören, und versucht, sie auf Kurs zu halten. Doch Winter verliert die Kontrolle bis es ihm in einer urkomischen Situation in einer Gastwirtschaft nicht einmal mehr gelingt, ein Schnitzel mit Toast zu bekommen.

    Bierbichlers meisterliche Darstellung des fortschreitenden Zusammenbruchs durchläuft die Stationen von Verleugnung, Panik und Erschöpfung. Die innere Bedrängnis gräbt sich in das Gesicht ein, schließlich macht auch der Körper nicht mehr mit. Diese Auflösung einer Existenz und eines Lebensentwurfs ist in Ina Weisses und Daphne Charizanis Drehbuch der rote Faden, in der Krise des Familienoberhaupts werden auch die Gewissheiten und Gewohnheiten von Winters Frau und Kindern erschüttert. Im einfachen Holzhaus der verstorbenen Mutter und Großmutter entfalten sich die widerstrebenden Gefühle der vier Familienmitglieder in einer genau choreographierten Inszenierung von Distanz und Nähe. Dabei gelingt es der Regisseurin und ihren Schauspielern, jedem Zweierverhältnis im Beziehungsgefüge eine deutliche eigene Prägung zu geben. Das Augenmerk liegt dabei besonders auf den Details und auf den Zwischentönen, wie in einer Bühnensituation reagieren die Darsteller aufmerksam aufeinander und spielen nicht nur für die Kamera. Vor allem das Verhältnis des zwischen Einzelkämpfertum, Konkurrenz und Zusammenhalt hin und her gerissenen Geschwisterpaars erhält durch das konzentrierte Spiel von Sandra Hüller (Requiem, Madonnen) und Matthias Schweighöfer (Soloalbum, Keinohrhasen, Der rote Baron) eine außerordentliche Vielschichtigkeit. Ein gemeinsamer Rückfall in ältere Zeiten wie beim merkwürdigen Ritual des Fersentretens wirkt in ihrer Darstellung völlig selbstverständlich. So ist diese (Selbst-)Geißelung zugleich vielsagend und rätselhaft.

    Familienbeziehungen sind immer auch Machtverhältnisse. Ein Wechselspiel von Druck und Aufbegehren bestimmt das Handeln der Personen. Auf diese Weise verlieren in „Der Architekt“ selbst harmlose Situationen wie das gemeinsame nackte Herumtollen im Schnee ihre Unschuld, entwickeln sie sich doch für einzelne Figuren zu kleinen Niederlagen. Trotz aller psychologischen Stimmigkeit im Einzelnen steht die dramatische Struktur der Konflikte im Mittelpunkt des Films. Gemeinsam mit Kameramann Carl-Friedrich Koschnick (Alles auf Zucker, Elementarteilchen) macht Ina Weisse die winterliche Tiroler Bergwelt zur von Kälte und Verzweiflung durchzogenen Seelenlandschaft, in der die kristallklaren Streicherklänge der Filmmusik lange nachwirken. Was eine allzu nüchterne Bestandsaufnahme sein könnte, wird durch die geschickte inszenatorische Verdichtung und Zuspitzung zu einem fast tragödienhaften Schauspiel. Erkennen und Empfinden gehen in „Der Architekt“ Hand in Hand.

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