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    Das Gelübde
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das Gelübde
    Von Sascha Westphal

    2004 war das Jahr der 1824 verstorbenen Nonne Anna Katharina Emmerick. Im Frühjahr kam Die Passion Christi in die Kinos und sorgte weltweit für erbitterte Diskussionen. Mel Gibsons extrem drastische Darstellung des Leidens und Sterbens Christi füllte zwar die Kinosäle, vor allem natürlich die in den Vereinigten Staaten, stieß aber auch auf heftigen Widerstand vieler gesellschaftlicher und kirchlicher Kreise – und das nicht nur aufgrund der ungezügelten, schon ans Splatter-Kino gemahnenden Blut- und Gewaltorgien. Für weiteren Unmut sorgte, dass sich der katholisch-fundamentalistische Hollywood-Star bei seinen blutigen Exzessen eben nur peripher auf die kanonisierten Texte der vier Evangelien berief. Im Zentrum seiner Passionsgeschichte steht stattdessen mit Clemens Brentanos „Das bittere Leiden unseres Herren Jesu Christi“ eine historisch höchst umstrittene Quelle. Zum einen ist unklar, in welchem Maß der romantische Dichter seine Aufzeichnungen der Visionen der Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick bearbeitet und durch eigene Ideen ergänzt hat. Zum anderen hat sein extrem antijudaistischer Ton einen dunklen Schatten über das Buch und die Ordensschwester geworfen. Trotzdem ist sie nach jahrzehntelangen Diskussionen und Untersuchungen am 3. Oktober 2004 von Pabst Johannes Paul II. selig gesprochen worden – allerdings nur aufgrund ihres vorbildlichen Engagements für die Menschen in ihrem Umfeld. Von ihren Visionen distanziert sich die katholische Kirche bis heute. Einen ganz anderen Blick, einen jenseits all der Kontroversen und auch all der diplomatischen Rücksichten, wirft Dominik Graf in seinem für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produzierten Historienfilm „Das Gelübde“ auf Anna Katharina Emmerick und ihr Verhältnis zu Clemens Brentano. Seine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Kai Meyer ist pures Kino. Und im Film waren Spiritualität und Schrecken, Glauben und Horror schließlich immer schon zwei Seiten einer Medaille; oder anders gesagt: Was wäre das Horrorkino ohne die christlichen Vorstellungen von Gott und dem Teufel, von Himmel und Hölle?

    Dülmen 1818. In der Folge der napoleonischen Kriege haben die Preußen die Herrschaft im katholischen Westfalen übernommen. Ihre Soldaten und Beamten sind dabei, das Land zu vermessen und neu zu verteilen. In dieser ungewissen, von Armut und Ressentiments bestimmten Zeit blüht neben nationalen Gedanken auch der Glaube regelrecht auf. So hat sich eine fast schon sektiererische Gemeinde um die seit Jahren an den Stigmata Jesu Christi leidende Nonne Anna Katharina Emmerick (Tanja Schleiff) gebildet. Ihr Leiden und ihre düsteren Visionen sorgen weit über die Grenzen von Westfalen hinaus für Aufsehen. Nachrichten über die Emmerick sind bis nach Berlin vorgedrungen, wo auch der gerade in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrte Clemens Brentano (Misel Maticevic) von ihr gehört hat. Von einem fast schon missionarischen Eifer getrieben macht sich der berühmte romantische Dichter auf den Weg nach Dülmen, um dort die Visionen der Nonne aufzuzeichnen. Schon bei ihrer ersten Begegnung bahnt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen Anna Katharina Emmerick und Brentano an. Sie sieht in ihm von Anfang an weit mehr als nur den Schreiber, der ihre Worte protokolliert; und er beginnt unter ihrem Einfluss, sowohl seinen Glauben als auch sein Leben erstmals ernsthaft zu hinterfragen.

    Letztlich entzieht sich „Das Gelübde“ jeder klaren Klassifizierung. Er lässt sich einfach nicht in eine Schublade packen – das gilt für viele Arbeiten von Dominik Graf, etwa auch für seinen actionreichen Polizeifilm „Die Sieger“ und seine mittlerweile beinahe legendäre „Tatort“-Episode „Frau Bu lacht“, die beide durchaus atmosphärische Anklänge an das Geister- und Horrorkino haben. Aber in diesem Fall ist Graf noch einen Schritt weitergegangen: Seine filmische Annäherung an Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano ist Literaturverfilmung und Historienepos, Liebesgeschichte und Horrorvision, politisches Drama und romantisches Filmgedicht in einem. Er springt unentwegt zwischen den einzelnen Genres hin und her, bis letztendlich alle Unterscheidungen sinnlos werden. Im Zusammenspiel der einzelnen Momente und Szenen entsteht etwas ganz Neues, Einzigartiges, das sich nicht nur jeder Einordnung, sondern auch einer sprachlichen Beschreibung zu entziehen scheint. Man kann sich ihm nur recht vage annähern, wirklich zu fassen bekommt man dieses in mehrerer Hinsicht revolutionäre Kunstwerk nicht.

    Wie der Horrorfilm verfügt auch das religiös-spirituelle Kino über einen seit langem etablierten Bilder- und Symbolschatz. Dazu gehören neben den typischen Darstellungen von Jesus Christus und seinen Jüngern vor allem Großaufnahmen, wie sie Carl Theodor Dreyer 1928 in seinem epochalen Drama „Die Passion der Jungfrau von Orleans“ etabliert hat. Dominik Graf greift natürlich auch auf diesen cineastischen Fundus zurück. Schon die erste Einstellung, in der Misel Maticevic über ein ödes, ziemlich ausgedörrtes Feld geht, beschwört biblische Wüsten-Assoziationen hervor. Aber all diese Anspielungen und Verweise machen nur einen Teil der von Graf heraufbeschworenen Stimmung aus. Eine noch stärkere Wirkung geht von Sven Rossenbachs und Florian van Volxems Score aus. Eigentlich müssten seine elektronischen Klänge in einem krassen Widerspruch zu den historischen Schauplätzen und Kostümen stehen. Doch beides ergänzt sich perfekt. Die Musik eröffnet den Bildern eine neue Dimension. Und in ihr herrscht eine Macht, deren Wirken man spüren aber nicht sehen oder gar beweisen kann. Das Göttliche oder auch das Teuflische offenbart sich nicht so sehr in den Einstellungen des Films als zwischen ihnen. Es ist der sich unserem Zugriff auf ewig entziehende Stoff, der Grafs Welt-Bild aber erst zusammenhält.

    Wem das jetzt alles etwas zu abgehoben klingt, sollte sich davon allerdings keineswegs abschrecken lassen. „Das Gelübde“ gehört zwar zu den wenigen Filmen, die religiöse Fragen tatsächlich ernst nehmen und den Versuch wagen, ihnen mit den Mitteln des Kinos beizukommen. Doch auch alle, die nicht so recht an Gott und seinen Widersacher glauben können oder wollen, wird dieser ungewöhnliche Genre-Mix sicher nicht enttäuschen. Die Eleganz und Selbstverständlichkeit, mit der Graf die einzelnen Ebenen der Geschichte, die schließlich auch von einem handfesten politischen Machtkampf zwischen dem preußischen Beamten- und Militärstaat und der weitgehend verarmten Landbevölkerung Westfalens erzählt, zusammenführt, verdienen die größte Hochachtung.

    Meist reichen Graf nur kurze Szenen – etwa von der Neuvermessung des Landes durch das Militär oder von der grausamen Bestrafung eines jungen westfälischen Landadeligen, der sich freiwillig zur preußischen Armee gemeldet hat –, um die kurz vor einer gewaltsamen Eruption stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu umreißen. Außerdem hat er mit Tanja Schleiff und Misel Maticevic gleich zwei grandiose Hauptdarsteller, dank derer sich „Das Gelübde“ trotz all seiner metaphysischen Höhenflüge eine eindrucksvolle Natürlichkeit bewahrt.

    „Pilger“ – so nennt Anna Katharina Emmerick den Dichter Brentano immer wieder. Und das ist er in einem gewissen Maße natürlich auch – nicht ohne Grund zeigt Graf ihn gleich zu Beginn, wie er zu Fuß ein Feld überquert. Aber im Kino schwingt bei dieser Anrede noch etwas anderes mit: die Erinnerung an John Waynes Tom Doniphon, der in John Fords Der Mann, der Liberty Valance erschoss zu James Stewarts Charakter ständig „Pilger“ sagt. Und wie bei Wayne liegt auch bei Tanja Schleiff etwas Spöttisches in dieser Anrede, eine Herausforderung, die so deutlich zur Schau gestellte, aber letzten Endes doch falsche Zurückhaltung endlich aufzugeben. Für Maticevics Brentano sind die Bescheidenheit des Pilgers und der missionarische Eifer des überzeugten Katholiken auch nur eine weitere Maske. So wie er zuvor die Rollen des romantischen Dichters und des amoralischen Wüstlings gespielt hat, gibt er nun den gläubigen Christen, der sich als Werkzeug Gottes gefällt. Doch im Grunde geht es bei all diesen Rollen immer nur um ihn, um den Eindruck, den er auf die Welt und die Menschen macht. Erst Anna Katharina Emmerick, die seine Masken durchschaut und ihn nicht mit den Lügen durchkommen lässt, die er sich und anderen erzählt, befreit ihn nach und nach von seiner Egomanie. Damit einher geht ein langsamer und alles andere als gradliniger Verwandlungsprozess. Dabei stülpt Maticevic das Innere Brentanos regelrecht nach Außen und lässt den Betrachter so an jedem Detail des Wandels teilhaben.

    Obwohl Anna Katharina Emmerick fast während des gesamten Films im Krankenbett liegt und unter enormen Schmerzen dem Tod immer näher kommt, wirkt sie in Tanja Schleiffs Darstellung niemals wie eine Leidende oder gar eine Märtyrerin. Sie strahlt eine ungeheuere Ruhe und Stärke aus. Ihre Anna Katharina Emmerick ist ganz bei sich und ihrem Glauben, und das lässt einen nicht mal einen Moment lang an ihr und allem, was sie sagt, zweifeln. Zudem steuert Tanja Schleiff geschickt jeglicher weltentrückter Heiligenverehrung entgegen. Diese Nonne ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, ein Mensch wie jeder andere, mit ganz normalen Ängsten und Sehnsüchten, Hoffnungen und Begierden. Wenn sie mit Brentano spricht und streitet, dann hat das auch immer etwas von einem Flirt.

    Fazit: Mit seiner Verfilmung von Kai Meyers Roman „Das Gelübde“ krönt Dominik Graf sein bisheriges Schaffen. Von seiner atmosphärisch ungeheuer dichten Schilderung der Freundschaft zwischen der von heftigen Visionen heimgesuchten Nonne Anna Katharina Emmerick und dem Dichter Clemens Brentano geht eine überwältigende spirituelle Kraft aus. So nah sind vor ihm nur wenige Filmemacher dem Mysterium und Schrecken des Glaubens gekommen.

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