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    Alles, was wir geben mussten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Alles, was wir geben mussten
    Von Alex Todorov

    Es war nur eine Frage der Zeit, bis Kazuo Ishiguros nüchtern-bedrückender Bestseller „Never Let Me Go" auf die Leinwand finden würde. Der im Deutschen mit „Alles, was wir geben mussten" holprig betitelte Science-Fiction-Roman führte 2005 zahlreiche Toplisten an und fand ein für das Genre unkonventionelles Setting: ein englisches Internat. Romancier Ishiguro dürfte Cineasten kein Fremder sein, seit James Ivory dessen Buch „Was vom Tage übrig blieb" meisterhaft adaptierte. „Alles, was wir geben mussten" hätte sich stilistisch und thematisch nahtlos in Ivorys Oeuvre gefügt. Regie führt nun, acht Jahre nach seinem gepriesenen Debüt „One hour photo", Mark Romanek, der auch schon einige beachtliche Musikvideos inszeniert hat, darunter Nine Inch Nails' „Closer" und Johnny Cashs NIN-Cover „Hurt".

    Unter der Federführung von Autor und Danny-Boyle-Kollaborateur Alex Garland („Sunshine", „28 Days Later") ist die Handlung hinsichtlich einer filmgerechten Umsetzung gestutzt worden. Zweifelsohne wird es Leser geben, die sich nicht vom Buch lösen können und dem Film den schnellen Tod wünschen. Dazu gibt es aber wenig Veranlassung. Der Film bleibt dem Ton des Buches treu und wird angeführt von einer eindringlichen Carey Mulligan („An Education") an der Seite von Neu-Spider-Man Andrew Garfield („Boy A"), Magerpüppchen Keira Knightley („Die Herzogin") sowie der großen Charlotte Rampling („Lemming"). Heraus kommt eine in Teilen grandiose, durchweg ruhige und streckenweise packende Mischung aus „Die Insel", ein bisschen „Abbitte" und „Flucht ins 23. Jahrhundert", die teils Gefahr läuft, ins Betuliche abzurutschen.

    Hailsham scheint ein ganz gewöhnliches Internat zu sein. Hier auf dem Lande, abgeschottet von der Außenwelt, wächst Kathy (Izzy Meikle-Small) in den 1970ern gemeinsam mit ihren besten Freunden Ruth (Ella Purnell) und Tommy (Charlie Rowe) auf: Unterricht, Sport, Zeichnen, kleine Intrigen, Hänseleien und Tratsch und Klatsch. Doch neben diesen Normalitäten birgt der Alltag Mysterien. Lehrer heißen Aufseher und unter dem Regime der Direktorin Miss Emily (Charlotte Rampling) sind die Kinder ausdrücklich dazu angehalten, sich gesund zu halten und sich kreativ zu betätigen. Nach und nach erschließt sich den Schülern, dass in Hailsham etwas Außergewöhnliches vor sich geht. Währenddessen gerät das Verhältnis der drei Freunde aus der Balance, als Ruth der anbahnenden Liebe zwischen Kathy und dem Sonderling Tommy ein Ende bereitet, indem sie selbst mit ihm anbändelt. Kathy ist vor den Kopf gestoßen und kapselt sich zunehmend ab. Mit 16 Jahren müssen Kathy, Tommy und Ruth (nun Carey Mulligan, Andrew Garfield und Keira Knightley) auf einen Bauernhof (genannt: Cottages), wo auch Schüler anderer Internate leben. Dort kommen sie erstmals in Kontakt mit der Außenwelt und stehen kurz vor ihrer letztgültigen Bestimmung: erkrankten Menschen als Organspender zu dienen...

    „It is much, much worse for a student of Hailsham to smoke cigarettes than anyone else. Students of Hailsham are special. Keeping yourself well, keeping yourself healthy inside is a paramount importance." - Miss Emily

    Wie Texttafeln eingangs schildern, ist das Geschehen in einem Paralleluniversum verortet. Menschen werden aufgrund bahnbrechender medizinischer Fortschritte in den 1950ern und 1960ern inzwischen durchschnittlich über 100 Jahre alt. Noch kein Wort, worin der Durchbruch besteht. Bemerkenswert ist, dass der britisch produzierte Film sehr unaufgeregt und unhollywoodlike offenbart, wofür die Kinder bestimmt sind. Diese Enthüllung wird in keinster Weise als solche behandelt, wächst aus der Handlung und wird nicht als großer Schockmoment herausgestellt, sondern als simpler Fakt. Ein Internat als menschliches Ersatzteillager. Ein futuristischer Topos, aber ohne von der Decke hängende Körper à la „Coma". Nichts davon ist in Hailsham zu erahnen. Sonderlich ist hingegen der Grad der Abschottung, der Schauergeschichten beflügelt, was mit den Kindern Grauenvolles passiert, die die Grenzen des Hailsham-Geländes verlassen. Hier hilft das Kino sich selbst auf die Sprünge, der geschulte Filmgänger weiß, dass solche Märchen nur als gezieltes Mittel zur Pferchung lanciert werden, man denke nur an „The Village". Überhaupt nehmen Gerüchte viel in den Vorstellungsräumen der Kinder ein. Was passiert mit den Zeichnungen, die alle Schüler machen müssen und von denen die besten von einer geheimnisvollen, nur Madame genannten Frau abgeholt werden? Gibt es wirklich „Originale" draußen, die einem jeden der Eleven als Blaupause zugrunde lagen und zum Verwechseln ähnlich sehen?

    Das erste Filmdrittel etabliert die Figuren Kathy, Tommy und Ruth sowie den Hailsham-Kosmos. Die Kinder dort machen all das durch, was ihre „normalen" Altergenossen auch durchleben, sie verlieben sich, machen erste sexuelle Erfahrungen, halten sich in traurigen Momenten an Liedern fest, bilden Cliquen. Allein die Blicke der Güterfahrer oder am deutlichsten die Worte der neuen Lehrerin Miss Lucy (Sally Hawkins) indizieren, dass hier etwas im Argen liegt:

    „Children might grow up to become actors, move to America, or they might work in supermarkets or teach in schools. [...] But [...] [N]one of you will go to America. None of you will work in supermarkets. None of you will do anything than live the life that has already been set out for you." – Miss Lucy

    Später in den Cottages wird ein Gerücht zum Katalysator der Dynamik: Ein Aufschub würde gewährt, kann ein Pärchen belegen, aufrichtig verliebt zu sein. Die Dreiecksbeziehung erhält neue Bewegung. Wusste Ruth schon damals von diesem Gerücht und hat sich deshalb an Tommy rangemacht? Das zweite Drittel in den Cottages ist am intensivsten. Sehr leise wird nach der Bestimmung der Kinder nun deren Ausweglosigkeit deutlich. Ihr Umgang mit all dem ist geprägt von solcher Passivität, dass es schmerzt. Man wünscht sich ab einem gewissen Punkt, sie würden sich wehren, revoltieren, weglaufen. Innerfilmisch entspricht diese gefühlte Teilnahmslosigkeit der Unfreiheit und gezielten Produktion der Kinder und sorgt für Beklemmung beim Zuschauer. Triebfeder für Bewegung und Bewegtheit der Charaktere ist indes die verzwickte Dreiecksbeziehung und bemerkenswerterweise weniger der Umstand ihrer ausgesprochen kurzen Lebenserwartung.

    Eines der Pärchen glaubt, in einem Küstenstädtchen Ruths Original entdeckt zu haben. Dort angekommen, stellt sich die Aufregung als falscher Alarm heraus und absolute Ernüchterung ein. Auf gewisse Art ist es der Stimmungstiefpunkt des Films. All die Abscheulichkeit ihres Gemachtseins kulminiert hier, wenn sie erwarten, endlich eines der ominösen Originale zu sehen – den Beweis ihrer Künstlichkeit, ihrer lieblosen Zweckdienlichkeit – und selbst davon enttäuscht werden. Ihre schiere Ohnmacht und Orientierungslosigkeit in dieser ihnen fremden Welt staut sich auf. Nach den Cottages trennen sich die Wege der Freunde. Ruth und Tommy spenden erstmals Organe, während Kathy Betreuerin wird und sich als solche um Spender kümmert. In diesem letzten Drittel wird die Bedeutsamkeit Hailshams für die Schüler offenkundig. Nun schon in ihren Zwanzigern und folglich in ihren letzten Jahren wird Hailsham ihnen zum wichtigsten Referenzpunkt, einem Ort der Sehnsucht. So viel Normalität und Selbstständigkeit werden sie nie wieder erlangen und erleben. Diese Rückbesinnung und geistige Reproduktion einer „glücklichen Kindheit" ist ihr Ankerpunkt, wenn ihnen ihre begrenzte Zeit nach der ersten, zweiten oder dritten Spende allzu deutlich wird und sie sehen und hören, wie neuerlich einer der Schulkameraden „erst nach der vierten Spende" nicht mehr aufwachte.

    Romanek erzählt sehr einfühl- und aufmerksam, detailliert, fängt Blicke ein, sehr leise in ruhigen Bildern und all das an der Grenze zur Behäbigkeit. Das Buch ist gleichermaßen leise und behutsam, graduell bekommt man Häppchen eines größeren Bildes. Im Film bleibt indes die Dreierbeziehung zeitweise dramaturgisch recht flach, es erschließt sich nicht durchgehend die Tiefe der Verhältnisse zueinander. Worin besteht zu Beginn die Freundschaft zwischen Kathy und Ruth? Besonders undankbar ist da der Tommy-Charakter, der irgendwo zwischen Tölpel und sensibler Begabung charakterisiert wird. Warum entscheidet Tommy sich für Ruth? Einige Hailsham-Minuten mehr zur dezidierteren Fundierung der Figuren und Beziehungen hätten den weiteren Verlauf stringenter gestalten können. Auch weil die jungen Widergänger von Mulligan, Garfield und Knightley, was Spiel und Ähnlichkeit angeht, Casting-Volltreffer sind. Keira Knightleys Performance fühlt sich an, als hätte man ihre öffentliche Persona (der sie privat sicherlich überhaupt nicht entspricht) typgecastet: Als zwar hübsche, aber etwas hochnäsige Etepetete-Schnepfe verrichtet sie einen überzeugenden Job. Tragende Säule aber ist die bestechende Carey Mulligan als Erzählerin Kathy. Die junge Britin gehört zu jenen Frauen, die selbst auf diejenigen einen undefinierbaren Reiz ausüben, in deren Beuteschema sie so gar nicht passen. Sie mimt die ernüchterungsgeplagte Kathy mit einer kindlichen Reife, die sie am Leidensdruck wachsen lässt. In den Cottages ist sie das dritte Rad am Wagen, oftmals in Gedanken vertieft. Tritt sie jedoch in Interaktion, spricht eine zwar zurückhaltende, traurige und nüchterne, nichtsdestotrotz aber höchst nachdrückliche Bestimmtheit aus ihrem Auftreten. Dieser Mensch ist trotz des Anscheins absoluter Lebensmüdigkeit pure Lebenskraft.

    „Alles, was wir geben mussten" verliert keine Worte über das hinter dieser Praxis stehende Gesellschaftsmodell. Ist es wirklich eine Dystopie? In erster Linie geht es um Kathy, Tommy und Ruth. Menschen nicht als Konsumenten, sondern als Konsumgüter. Ishiguros Roman nimmt die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit in einer zugespitzten Konstellation in den Brennpunkt. Auf verzerrte Weise ist es auch ein Film über das Altern und den nahenden Tod sowie über einen jeweils würdevollen Umgang. Frappierend ist, dass der Tod innerhalb der Handlung die gleiche Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit für die Protagonisten hat, wie für einen 85-jährigen Todkranken. Wird dem Tod – gerade junger Menschen – ein Zweck zugewiesen, schlagen die ethisch-moralischen Drehzahlmesser aus.

    In „Flucht ins 23. Jahrhundert" dürfen Menschen aufgrund von Raummangel nur 30 Jahre alt werden. Ein totalitäres Regime trägt dafür Sorge. Romaneks Film umreißt die Gesellschaft hingegen nur über einen Umweg. Die oben erwähnten Zeichnungen, die kreativen Ergüsse der Schüler. Wozu? Die Menschen fürchten immer den anderen, den Fremden. Die Bilder und Malereien sind für die verängstigte Bevölkerung, die den Klonen Menschlichkeit und Seele absprach. Es ist das Valium fürs Volk, Bestätigung, nicht Zombies zu züchten. In Hailsham sehen wir Kathy einmal in ihrem Zimmer stehen, mit beiden Händen hält sie ein Kissen an die Brust gepresst, als wäre es ihr Kind. Tief versunken hört sie wieder und wieder eine Kassette, die Tommy ihr schenkte. Leise bewegen sich ihre Lippen zum Text: „Baby, never let me go."

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