Mein Konto
    Tangerine
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tangerine
    Von Sascha Westphal

    Die Namen einiger weniger, über die ganze Welt verstreuter Metropolen haben im Lauf der Zeit einen fast mythischen Klang angenommen. Es gibt sie quasi zwei Mal, einmal als reale Städte, die von ganz normalen Menschen mit ihren ganz alltäglichen Problemen bevölkert werden, und einmal als romantische Orte, die so nur in der Vorstellung derer existieren, die von ihnen gehört und gelesen haben. Dass Welten zwischen diesen beiden Städten gleichen Namens liegen, versteht sich von selbst. Wenn Wirklichkeit und Vorstellung dann wie in Irene von Albertis unterkühltem Melodrama „Tangerine“ aufeinanderprallen, sind kleine und größere Missverständnisse genauso vorprogrammiert wie die eine oder andere Alltagstragödie. Der Zusammenprall lässt beide Welten, die reale und die imaginierte, einige Zeit lang erbeben, aber keine von ihnen fällt gänzlich zusammen. Aber die Erschütterungen lassen Risse zurück, denen die deutsche Filmemacherin, die selbst lange in der marokkanischen Hafenstadt Tanger gelebt und dort die Dokumentation „Halbmond“ gedreht hat, in ihrem ersten langen Spielfilm auf höchst eindrucksvolle Weise nachspürt.

    Die junge Marokkanerin Amira (Sabrina Ouazani) hat einen Traum. Sie will Tänzerin werden und in Musikvideos auftreten. Doch davon will ihre Familie, vor allem der Onkel, bei dem sie lebt, nichts wissen. Ihr bleibt also nur die Wahl zwischen einer Zukunft als Dienstmädchen und später einmal Ehefrau oder eben die Flucht aus der als Gefängnis empfundenen Familienenge. Doch ein solcher Ausbruch ist in der islamischen Welt weitaus schwieriger und auch folgenreicher als in Europa. Sie findet schließlich Zuflucht und Freundinnen in der Wohngemeinschaft einiger alleinstehender Frauen, die sich als (Gelegenheits-)Prostituierte in Tanger durchschlagen. Nur ist ihr weiterer Weg damit vorgezeichnet. Als Amira in einem Nachtclub dem Berliner Rockmusiker Tom (Alexander Scheer) und dessen Freundin Pia (Nora von Waldstätten) begegnet, bietet sich ihr eine einmalige Chance. Tom, der sich in die Tänzerin verliebt, könnte ihr helfen, sich endgültig aus den Klauen einer Gesellschaft zu befreien, die ihren Traum niemals respektieren wird. Doch Pia, die den Musiker längst nicht mehr liebt, ist noch nicht bereit, ihn endgültig loszulassen.

    Jede Dreiecksgeschichte hat etwas von einem explosiven Gemisch. Ein kleiner Funke kann reichen, und schon eskaliert die Situation. Doch in dem Dreieck, das Amira, Tom und Pia bilden, steckt noch eine ganz andere Sprengkraft. Schließlich treffen in ihm mit der islamischen und der westlichen Welt zwei Kulturkreise aufeinander, die sich in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt haben. Irene von Alberti konzentriert sich zwar ganz auf ihre drei zentralen Figuren und deren Lebensentwürfe. Aber die Missverständnisse, die ihre fragilen Beziehungen von Anfang an prägen, zeugen zugleich von den Differenzen zwischen diesen beiden Kulturen. Dabei bezieht sie selbst nie Stellung. Sie verzichtet auf jede Form von Bewertung. So kommen beide Seiten und Perspektiven zu ihrem Recht.

    Amira, die Sabrina Ouazani (So ist Paris, Couscous mit Fisch) den ganzen Film über wunderbar in der Schwebe zwischen Naivität und Berechnung, Idealismus und Enttäuschung hält, kann die beiden Deutschen und ihr (unnötig) kompliziertes Verhältnis einfach nicht verstehen. Pias maßlose Egozentrik und die zum Teil schon ans Lächerliche grenzenden Exaltationen des Kreativen aus Berlin-Mitte müssen ihr unendlich fremd bleiben. Schließlich hat sie jeden Tag mit überaus realen, ihre ganze Existenz bedrohenden Problemen zu kämpfen. Doch für diese Probleme haben Tom und Pia kein Gespür. Er, der auf den Spuren des einstigen Rolling-Stones-Mitglieds Brian Jones wandelt und Marokko nur durch die Brille seiner romantischen Vorstellungen sieht, hat auch einen gänzlich verklärten Blick auf Amira. Für ihn ist sie eine verführerisch exotische Erscheinung, fast eine Märchen-Figur, die nie ganz real für ihn wird.

    Alexander Scheer (Sonnenallee, Das wilde Leben) ist der große Exzentriker unter den deutschen Schauspielern seiner Generation. Jeder seiner Auftritte hat etwas von einem Balanceakt, der jeden Augenblick schrecklich schiefgehen könnte. Aber diese Absturzgefahr gehört für Scheer dazu. Aus ihr erwächst eine ungeheure Vitalität, die seinen Performances eine Unmittelbarkeit verleiht, wie sie sich sonst eigentlich nur in der Live-Situation des Theaters einstellt. Natürlich ist dieser Tom mit seinem ständigen Geschwafel von arabischer Musik und seinem von den Decandents der 60er Jahre geklauten Habitus, neben Brian Jones lässt auch noch Syd Barrett, der erste Sänger von Pink Floyd, grüßen, eine Nervensäge. Aber Alexander Scheer erhebt sich nie über ihn. Dieser Typ glaubt an alles, was er sagt. Und selbst in seiner Beziehung zu Amira ist Tom auf eine verquere Art aufrichtig. Sein Scheitern ist letztlich das Scheitern des Westens an sich.

    Die besten Absichten alleine reichen eben nicht aus. Sie führen, wie Pias recht hilfloser Versuch, ihre Fehler wieder gutzumachen, in aller Deutlichkeit illustriert, oft nur zu weiteren Missverständnissen. Trotzdem ist diese Pia, die ein ziemlich egoistisches Spiel mit Amira treibt, aber schließlich selbst von ihren Gewissensbissen getrieben wird, die komplexeste, am schwersten zu charakterisierende Figur in dem von Irene von Alberti entworfenen Dreieck. Und Nora von Waldstätten (Falscher Bekenner, „Tatort: Herz aus Eis“) ist die Entdeckung dieses Films. Sie strahlt eine fast schon anmaßende Überlegenheit aus, gegen sie haben weder Amira noch Tom eine Chance, und wirkt zugleich doch ganz unsicher und verloren. Wie leicht hätte diese junge Frau, die nicht weiß, was sie will, die mit den Menschen spielt, weil sie sich nicht traut, echte Gefühle zu investieren, zu einer Karikatur werden können. Aber so wie sie Nora von Waldstätten verkörpert, entwickelt Pia eine Tragik, die so gar nicht zu dem typischen Bild der Kreativen aus Berlin-Mitte passt.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top