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    Wenn die Gondeln Trauer tragen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Wenn die Gondeln Trauer tragen
    Von Ulrich Behrens

    „Dreh dich nicht um“ - Unbeschwertheit steht am Anfang. Johnny (Nicholas Salter) und seine Schwester Christine (Sharon Williams) spielen auf einer Wiese nahe des Anwesens ihrer Eltern Laura (Julie Christie) und John Baxter (Donald Sutherland). Der Junge fährt mit dem Fahrrad, das Mädchen in ihrem roten Cape spielt mit einem Ball. John schaut Dias von einer Kirche an, Laura studiert ein Buch. So unbekümmert geht es in Nicolas Roegs Film nach einer Kurzgeschichte von Daphne du Maurier – die u.a. auch den Stoff für Hitchcocks „Die Vögel“, „Rebecca“ und „Jamaica Inn“ lieferte – nur noch einmal zu: in der berühmten Liebesszene zwischen John und Laura in einem Hotel in Venedig, die zu einer der berühmtesten Filmszenen dieser Art geworden ist.

    Das Glück und die Zufriedenheit der vierköpfigen Familie wird jäh gestört, als John aufgrund einer Vorahnung plötzlich das Haus verlässt und in panischer Angst zu einem kleinen See rennt, als ob es um sein Leben gehe. Aber es geht um das Leben seiner Tochter, die er nicht mehr retten kann. Christine liegt im See, ertrunken. Schreiend, schluchzend, verzweifelt holt John das tote Mädchen aus dem See.

    Bis hierhin scheint der Film nichts weiter als eine „normale“ Familientragödie, und man könnte denken, es gehe jetzt um die Verarbeitung dieses schrecklichen Ereignisses. In gewisser Weise ist dies auch richtig. Denn John nimmt eine Stelle in Venedig an, dieser geheimnisvollen, einzigartigen, verwinkelten und von Wasser umspülten Stadt. Der Winter bricht an, und John hat die Verantwortung für die Renovierung einer kleinen Kirche in Venedig übernommen – auch um sich und Laura Abstand von dem furchtbaren Tod der kleinen Christine zu verschaffen, während Johnny für die Zeit der Arbeiten an der Kirche in einem Internat in England untergebracht wurde.

    Laura und John lieben sich, und bis zum Schluss des Films spürt man die innige Zuneigung der beiden. Die erwähnte Liebesszene besteht aus einer einzigartigen Montage aus Vorspiel, Liebesakt und Ankleiden danach – und trotz der damaligen puritanischen Proteste gegen den Film v.a. aus den USA handelt es sich eben nicht um eine profane Sex-Szene, sondern wirklich um die Bebilderung der Liebe zwischen den beiden, deren Entwicklung sich wie ein roter Faden durch den Film zieht.

    Der andere – im wahrsten Sinne, weil durch die Farbe Rot repräsentierte – Faden der Geschichte scheint dieser Liebe diametral entgegengesetzt. Er zieht sich vom Tod des Kindes im roten Regencape über den Rotwein, der sich kurz danach über einige Dias ergießt, den teilweise roten Ball des Mädchens bis hin nach Venedig, wo man u.a. eine rote Kerze im Zimmer von Bischof Barbarrigo (Massima Serrato) sieht, für den John an der Kirche arbeitet.

    Dieser zweite Faden der Geschichte ist durch Mysteriöses, letztendlich Unerklärliches repräsentiert, durch Ereignisse und Personen, über deren Ursachen bzw. Motive man zwar Spekulationen anstellen kann, die aber letztendlich zu nichts führen. In Venedig treffen Laura und John auf zwei ältliche Schwestern, Wendy (Clelia Matania) und die blinde Heather (Hilary Mason). Heather erklärt Laura, Christine gehe es dort, wo sie jetzt sei, ausgezeichnet. Sie habe immer noch ihr rotes Cape an. Heather scheint hellseherische Fähigkeiten zu haben – das zweite Gesicht, wie Wendy sagt. Und Laura, die den Tod ihrer Tochter noch lange nicht verkraftet hat, fängt an zu glauben, was Heather behauptet: Sie könne Kontakt mit Christine aufnehmen. John hingegen hält dies alles für Hokuspokus und befürchtet, Laura könne sich in etwas Abstruses hineinsteigern.

    Roeg visualisiert ein düsteres, kaltes Venedig, was wiederum mit den Erinnerungen der meisten Menschen an die Lagunenstadt kontrastieren muss, wenn es um den weiteren Gang der Geschichte geht. Wir treffen auf merkwürdige Menschen: einen Bischof, der an der Restaurierung „seiner“ Kirche wenig Interesse zeigt, einen zwielichtigen Kommissar und einen Hotelmanager, der auch nicht unbedingt vertraueneinflößend wirkt. Doch nicht nur das. Unerklärliche Geräusche während der Nacht, als sich Laura und John im Dunkeln verlaufen haben, in die weitere Szenerie einmontierte, ganz kurze Szenen, in denen man die beiden ältlichen Schwestern hämisch lachen hört, eine Seance der beiden, an der Heather mitwirkt und nach der Heather Laura warnt, ihr Mann sei in Lebensgefahr, wenn er in Venedig bleibe, ein Unfall des Sohnes in England, der Laura veranlasst, Venedig zu verlassen, um dann feststellen zu müssen, dass Johnny außer ein paar Kratzern nichts abbekommen hat – all diese Kleinigkeiten verdichten sich in der Gesamtschau des Geschehens zu einem geheimnisvollen Background, als ob sich hinter den verschlossenen Häusern, den hohen Gemäuern, den dunklen und teils einsamen Winkeln der Stadt eine Verschwörung aus dem Jenseits abspielen würde.

    Als dann John trotz der Abwesenheit Lauras in England sie und die beiden älteren Damen auf einem Boot sieht – zusammen mit einem Sarg –, kommt in John der Verdacht auf, die beiden Frauen seien möglicherweise in die Mordserie verstrickt, die in Venedig schon mehrere Opfer gefordert hat. Ein Sturz Johns von einem Baugerüst in der Kirche, bei dem er nur knapp dem Tod entkommen kann, untermauert die Prophezeiung von Heather.

    Aber es kommt noch schlimmer.

    In „Don’t Look now“ verarbeitete Roeg die verwirrende Kurzgeschichte der Daphne du Maurier zu einem zumeist undurchschaubaren Spiel, in dem zwischen Phantasie, Realität, Sinnlichem und Übersinnlichem nicht zu unterscheiden ist. Dabei gelingt es Roeg, das Spiel mit menschlichen Ängsten, wie es du Maurier in vielen ihrer Geschichten betreibt, visuell beeindruckend umzusetzen. Die Angst in „Don’t Look Down“ korrespondiert dabei mit Bruchstücken von Erinnerung (etwa wenn John an die ertrinkende Tochter denkt oder Schritte über Scherben). Ganz ähnlich wie in „Die Vögel“ ist es das Unerklärliche, ja Unwahrscheinliche und gleichzeitig doch nicht Beherrschbare, Un-Fassbare, was sich wie ein schicksalhafter, ja böswilliger Schleier über die Menschen legt – in „Die Vögel“ eben eine kooperativ auftretende aggressive Schar von normalerweise harmlosen Singvögeln, in „Don’t Look Down“ sehr viel weniger handgreiflich merkwürdige Gestalten wie ein in rot gekleideter Zwerg bzw. vor allem das „zweite Gesicht“, d.h. die vermeintliche Fähigkeit sowohl Heathers, als auch Johns, zukünftige Geschehnisse voraus zu ahnen, als real zu sehen.

    Für den Betrachter entsteht daraus eine schier nicht auszuhaltende Spannung zwischen der Hoffnung, Laura und John könnten der Gefahr entrinnen, und dem zum bitteren Ende sich entwickelnden Geschehen.

    In ähnlicher (wenn auch von der Geschichte her nicht in gleicher) Weise wie Polanski in „Rosemaries Baby“ (1968) montiert Roeg eine scheinbar nach vernünftigen, verstandesmäßigen, logischen, aufgeklärten Regeln konstruierte Welt mit dem genauen Gegenteil: dem Mysterium des nicht greifbaren Bösen, das sich in Angst und Tod manifestiert und nicht kontrollierbar ist. Und wie Polanski, aber auch Friedkin in „Der Exorzist“ (1973) setzt Roeg mit „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ in einer Phase der „Restauration“ einer vor allem technizistisch und rationalistisch verstandenen „Aufklärung“ (d.h. der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg) ein Zeichen von Irrationalität – so, als ob erneut wie im 19. Jahrhundert die Romantik ihre kritischen Fragen an den rationalistischen Diskurs der Aufklärung stellen würde. Gerade die überdehnte Betonung der Vernunft als Weg heraus aus Aberglauben, Irrtümern und Vorurteilen hin zu einem „golden age of peace, harmony and tolerance“ gegenüber der Bedeutung von Phantasie und Emotion verursachte die Bewegung der Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung.

    Besonders in der phantastischen, erschreckenden und visuell exzellenten Schlussszene des Films wird der Zweifel am „kritischem Rationalismus“ jener Zeit (so der Name jener streng rationalistisch argumentierenden Philosophie u.a. eines Karl Popper in den 60er Jahren) und an den mathematisch operierenden (sozial-)wissenschaftlichen Methoden der „empirischen Sozialforschung“ jener Epoche manifest, hinter denen nicht mehr und nicht weniger als ein kalter, emotionsloser Fortschrittsglaube stand. Wenn der rote Zwerg in „Don’t Look Now“ am Ende das Messer zieht, erscheint das vor diesem Hintergrund – trotz der Tragik des Geschehens – wie ein fast schon ironischer Kommentar zur Zeit.

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