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    Sarahs Schlüssel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Sarahs Schlüssel
    Von Robert Cherkowski

    In Deutschland hat die Auseinandersetzung mit den Verbechen des Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Judenverfolgung im Speziellen eine lange und notwendige Tradition. Allerdings haben sich auch andere Staaten an der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden beteiligt und sich ihrer Mitschuld erst spät oder nie gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien so etwa ganz Frankreich der Résistance angehört zu haben – abgesehen von Philippe Pétain, dem Kopf der Vichy-Regierung. Dabei war die Beteiligung der Pariser Polizei an der Internierung Tausender Juden im Pariser Velodrom am 16. und 17. Juli 1942 von ungeheurer Brutalität und Rücksichtslosigkeit geprägt. Auch in puncto cineastische Aufarbeitung besteht diesbezüglich ein eklatanter Mangel. Zwar gibt es mit „Monsieur Klein" und „Armee im Schatten" zwei Klassiker, in denen die Schattenseiten des Widerstandes thematisiert wurden – im Mainstreamkino gab es jedoch lange Zeit niemanden, der den Finger in die Wunde legen wollte. Im Februar 2011 wurde dieses Versäumnis mit dem leider enorm verkitschten „Die Kinder von Paris" nachgeholt. Mit „Sarahs Schlüssel" nähert sich nun auch Gilles Paquet-Brenner dem Thema verdrängter französischer Schuld, und zwar sehr viel ausgewogener und sachlicher.

    Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Stieftochter lebt die gebürtige New Yorkerin Julia (Kristin Scott Thomas) in Paris, wo sie als Korrespondentin einer englischsprachigen Zeitung arbeitet. Grade hat sich die kleine Familie eine geräumige Wohnung gesucht, als Julia herausfindet, dass ihr Domizil 1942 von einer jüdischen Familie bewohnt wurde, die enteignet und interniert wurde. Mehr und mehr verliert sie sich in der Recherche über das Schicksal der unglückseligen Familie Starzynski. Parallel zu Julias Stöbern in der Vergangenheit wird mittels Rückblenden die Odyssee der jungen Jüdin Sarah (Mélusine Mayance) geschildert. Bevor sie aus Julias neuer Wohnung verschleppt wurde, konnte sie eben noch ihren ihren Bruder in einer geheimen Kammer verstecken. Den dazugehörigen Schlüssel trägt sie immer bei sich und er wird zu einem Symbol ihres Überlebenswillens...

    Mit der Entscheidung, Julias Selbstsuche im vergangenen Schicksal der Fremden und Sarahs Überlebenskampf parallel zu erzählen, hat sich Paquet-Brenner keinen Gefallen getan. Zu Beginn kommt es so immer wieder zu deutlichen Brüchen im Erzählfluss, bis dann später bloß noch in vereinzelten Szenen Sarahs Nachkriegsbiografie aufgegriffen wird. Leider gelingt es Paquet-Brenner nicht, in den Rückblenden ein hinreichend starkes Gefühl für die Zeit, die Ängste und die falschen Hoffnungen der verschleppten Pariser Juden heraufzubeschwören. Stattdessen wird auf altbekannte Bilder schreiender Kinder, hilfloser Väter und schluchzender Mütter zurückgegriffen, die zwar auf einer manipulativen Gefühlsebene ihre tränenziehende Wirkung nicht verfehlen, doch gleichzeitig als inszenatorische Kapitulation zu deuten sind. Als Sarah der Lagerhaft entfliehen kann und sobald die Rückblenden ab der Filmmitte seltener werden, findet „Sarahs Schlüssel" dann aber zu einem besonneneren Tonfall.

    Der Reiz des Films liegt in den Gegenwartsepisoden, denen Hauptdarstellerin Kristin Scott Thomas in einer schwierige Rolle spürbare Gravitats verleiht. Leicht hätte diese Rolle zur unseriösen Gutmenschen-Nummer verkommen können. Scott Thomas jedoch spielt ihre komplizierte Figur mit komplizierten Beweggründen jederzeit zugänglich und kraftvoll. Auch wenn es dabei gelegentlich etwas sentimental zugeht und die Musik des ansonsten so geschmackssicheren Max Richter („Waltz with Bashir") den ein oder anderen Tropfen Schmalz ins Getriebe spült, umschifft Paquet-Brenner die Gefahr der Verkitschung souverän: Weder in den Gegenwartsszenen, in denen die abgebrühte Julia mit den Zweifeln und Ängsten der Gegenwart umgeht, noch in den Rückblenden, in denen viele von Sarahs Familienmitgliedern und Weggefährten sterben, ohne dass dabei Zeit zur Trauer bliebe, gerät der Film zu rührselig.

    Lediglich in den letzten Abschnitten von „Sarahs Schlüssel" franst die Spurensuche über die Generationen hinweg ein wenig aus. Wenn Paquet-Brenner im Schlussakt den erwachsenen Sohn (Aidan Quinn) der überlebenden doch hoffnungslos verstörten Sarah in den Mittelpunkt rückt, verliert sich der Film in den nahezu endlosen erzählerischen Möglichkeiten, die sich bei einem so bedeutsamen Aufarbeitungsvorhaben eröffnen. Nach rund 80 Minuten fällt es schwer, plötzlich einen neuen Akteur als emotionales Zentrum zu akzeptieren. Was in Tatiana de Rosnays Romanvorlage noch durchaus machbar war, wirkt im Medium Film zu plötzlich, so irritierend. Selbst diese Mängel können den Gesamteindruck jedoch nicht trüben: Im Vergleich zum thematisch unmittelbar verwandten „Die Kinder von Paris" hat „Sarahs Schlüssel" eindeutig mehr zu bieten.

    Fazit: Gilles Paquet-Brenners Historiendrama über die düstersten Kapitel der französischen Kollaboration ist nicht perfekt. Sehr wohl gelingt ihm aber eine differenzierte Auseinandersetzung mit historischer und persönlicher Verantwortung – und das nicht zuletzt dank einer erwartungsgemäß großartigen Kristin Scott Thomas.

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