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    Engel mit schmutzigen Flügeln
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Engel mit schmutzigen Flügeln
    Von Christoph Petersen

    Ein Skandal ist, was die Bild dazu macht. Am 20. November 2009 berichtete das Boulevardblatt unter der Überschrift „Die ARD-Nonne & Der Sex-Film“ über Roland Rebers „Engel mit schmutzigen Flügeln“, in dem Antje Nikola Mönning, die in der ARD-Serie „Um Himmels Willen“ eine Nonne verkörpert, über Dildo-Spiele und Gruppensex zu sich selber findet. Daraufhin avancierte der Trailer innerhalb weniger Tage zum meistgeschauten in der Geschichte von Filmstarts. Auch als Mönning am 21. November ihren Ausstieg aus „Um Himmels Willen“ ankündigte, war die Meldung der Bild einen Aufmacher wert. Doch das Erotik-Drama der Filmproduktion wtp International als bloßen Bild-Skandal abzutun, wäre zu kurz gegriffen. Denn genau wie die beiden vorangegangenen Produktionen des Münchner Independent-Labels, 24/7 – The Passion Of Life und Mein Traum oder Die Einsamkeit ist nie allein, zählt auch „Engel mit schmutzigen Flügeln“ trotz oder gerade wegen seiner unzähligen Angriffsflächen, die er seinen Kritikern bereitwillig offenbart, mit zum Aufregendsten, was das deutsche Kino aktuell zu bieten hat.

    Engel sind Überlebende. Als Gott auf seine Gebote blickte, begann er sich zu langweilen. Und die Engel taten es ihm gleich. Als sich viele von ihnen zu Tode gelangweilt hatten, schwuren sich die Übriggebliebenen, sich nie mehr zu langweilen und sich stattdessen zügellos ihrer Lust hinzugeben. Auch Gabriela (Marina Anna Eich) und Michaela (Mira Gittner) sind solche Engel mit schmutzigen Flügeln. In Lucy (Antje Nikola Mönning) haben sie eine willige Schülerin gefunden. Die junge Frau hat sich ihr Leben lang selbst belogen. Nun soll sie sich zu dem bekennen, was sie ist: eine verlogene, geile Schlampe. Ein barbusiges Fotoshooting unter einem gekreuzigten Jesus und der Geschlechtsverkehr mit einem Fremden am Baggersee werden von den Engeln noch als Kinderkram abgetan. Erst mit exhibitionistischen Dildo-Spielen in einem Striplokal und dem Sex mit Mitgliedern einer Harley-Davidson-Biker-Gang überzeugt Lucy ihre Lehrerinnen davon, auf dem richtigen Weg zum schmutzigen Engel zu sein…

    „Ich kenn‘ alles bis auf Punkt und Strich,

    nur eines nicht, das bin ich, ich, ich.“

    Lucys Selbstfindungstrip hält eine komplette Umkehrung der klassischen Geschlechterrollen parat. Die alles andere als blütenweiße Engels-Anwärterin erzählt ihren Lovern – von „Du hast den geilsten Schwanz, den ich je gesehen habe.“ bis zu „Vor Dir hatte ich noch nie einen Orgasmus.“ – alles, was sie hören wollen, nur um sie dann für ihre (sexuellen) Zwecke auszunutzen. Hier sind die Frauen die Machos und die Männer die Sensibelchen. Der Höhepunkt dieser Entmannung ist erreicht, wenn die harten Kerle vom Biker-Club Racing Death Bavaria erzählen, dass es bei ihrem Verein in erster Linie ums gegenseitige Zuhören und die Stärkung sozialer Kompetenzen ginge, während Lucy nebenan einen der Ihrigen flachlegt. Bei dieser Kastration alles klassisch Männlichen fragt man sich dann schon, auf welcher Seite Regisseur Reber eigentlich steht und ob er nicht besser mal eine Pause von all den starken Frauen, die ihn bei wtp umschwirren, einlegen sollte.

    „Engel mit schmutzigen Flügeln“ ist ein Film voller Widersprüche. Mit seinen im Raum zueinander positionierten Figuren und den monologisierten Textphrasen steckt er voller Theatralik. Zugleich strahlt Antje Nikola Mönning, die im Bild-Interview zu Protokoll gab, dass alle ihre Orgasmen echt gewesen seien, aber auch eine überragende Natürlichkeit aus. Nicht nur ihr Charakter, auch sie selbst als Schauspielerin hat sich mit dieser darstellerischen Tour De Force auf die denkbar-radikalste Art freigeschwommen. Ansonsten schwankt „Engel mit schmutzigen Flügeln“ noch zwischen Selbstfindungstrip und Softporno, feministischem Pamphlet und Altherrenphantasie, Experimentalkino und Heimvideo, Philosophie-Philosophie und Küchen-Philosophie, weiblicher Selbstbestimmung und männlicher Selbstverleumdung. Diese Mehrdeutigkeit wird viele Zuschauer – auf gutdeutsch ausgedrückt – ankotzen. Doch ebenso strahlt sie auch eine einzigartige Faszination aus. Und schließlich ist es der Luxus, auch mal Leuten vor den Kopf zu stoßen, der den Independent vom Mainstream abgrenzt.

    Fazit: „Engel mit schmutzigen Flügeln“ ist ein lohnenswertes Experiment für alle, die einen Blick über den Tellerrand von Mainstream-Krachbumm und Arthouse-Anspruch wagen wollen. In diesem Sinne: „Ich ficke, also bin ich.“

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