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    Der Leopard
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Leopard
    Von Ulrich Behrens

    „Wir waren die Leoparden, die

    Löwen, die Adler. Unseren Platz

    werden Schafe, Hyänen und

    Schakale einnehmen. Doch in

    einem gleichen wir uns – Leoparden,

    Schakale, Hyänen und Schafe:

    Alle glauben nämlich von sich,

    sie seien das Salz der Erde.“

    (Fürst Don Fabrizio Salina)

    Die sizilianische Hitze ist spürbar. Alles ist hell in der mal kargen, mal üppigen Landschaft in der Nähe des Ortes Donnafugata. Man gewinnt den Eindruck, dass es hier nie regnet. Die Sonne scheint zu mächtig, jegliche Veränderung im Keim zu ersticken.

    Langsam nähert sich die Kamera einem großen, von außen eher schlicht wirkenden Palast. Vom Innern des Hauses hört man Stimmen, eine Art Gemurmel. Wir nähern uns den Fenstern, und aus dem Gemurmel wird ein eintöniges Beten. Wir schauen hinein. Eine Familie bei der Hausandacht. Einige stehen, andere knien oder sitzen. Der Raum ist prächtig ausgestattet. Ein Priester, Vater Pirrone (Romolo Valli), kniet neben dem Fürsten von Salina (Burt Lancaster), einem bereits älteren, strengen Herrn. Seine Frau Fürstin Maria Stella (Rina Morelli), seine Töchter Carolina (Ida Galli), Concetta (Lucilla Morlacchi) und Caterina (Ottavia Piccolo), sein Sohn Francesco Paolo (Pierre Clémenti) und der kleine Fürst, der jüngste Spross der Familie (Brook Fuller) sind ebenso anwesend wie des Fürsten Großneffe Tancredi Falconeri (Alain Delon), in den Concetta verliebt ist.

    Alles scheint wie immer. Die Tradition scheint zu herrschen. Doch die Messe wird jäh unterbrochen, als man in der Nähe der fürstlichen Residenz einen toten Soldaten findet – einen, der auf der Seite des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi gekämpft hatte.

    Luchino Visconti erzählt – einmal mehr – die Geschichte des Übergangs, des Verfalls, der Revolution – so wie schon in „Die Erde bebt“ (1948), einem jener Meisterwerke des italienischen Neorealismus, von den Bedrohungen für die armen Fischer eines kleinen Ortes durch das Eindringen des Kapitalismus; oder in „Ludwig II.“ (1972) vom Zerfall der Monarchie alten Typs, dem sich der bayerische König nur durch die Flucht in den Wahnsinn, die Einsamkeit und schließlich den Tod zu entziehen vermag.

    Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Garibaldi und seine in rote Hemden gekleideten Soldaten schicken sich 1860 an, Neapel und Sizilien zu erobern. In einer rund 15 Minuten dauernden Kampfszene zeigt Visconti in prächtigen, farblich satten Szenen die Schlacht um Palermo zwischen den Rothemden und den königlichen Truppen. Der Fürst von Salina ist weiß Gott kein Freund der Garibaldiner oder überhaupt irgendeiner revolutionären Veränderung. Aber er ist Realist, Pragmatiker. Er weiß, dass sich die anstehenden Veränderungen im Staatsgefüge Italiens nicht aufhalten lassen.

    „Es muss sich alles ändern,

    damit alles so bleibt, wie es ist.“

    Der Fürst ein Patriarch der Familie, Patriarch der Region, Patriarch der Elite. Der Adel, seit Jahrhunderten Herrscher über Sizilien und Italien, hat seine Lebensweise, seine festen und festgefahrenen Bräuche. Und doch spürt Don Fabrizio, dass er sich zwar nicht auf die Seite Garibaldis stellen kann, aber den neuen Kräften auch nicht im Weg stehen darf. Tancredi, sein Neffe, den er liebt wie einen Sohn, dessen Lebenslust, Kraft und Entschlossenheit er bewundert, ist ein glühender Anhänger des Neuen; auch er will Viktor Emmanuel II., auch er will das Risorgimento, die Einigung Italiens.

    In Donnafugata ist es vor allem Don Sedara (Paolo Stoppa), ein schlauer Fuchs, ein machthungriger Betrüger, der sich so manches Stück Land unter den Nagel gerissen hat, der das Geschäft des aufstrebenden Bürgertums betreibt – ein Ränkeschmied, der dem Fürst mit freundlich-hämischen Lächeln gegenübertritt und seine schöne Tochter Angelica (Claudia Cardinale) in die politische Waagschale wirft, um schnell zu mehr Einfluss und Macht zu gelangen. Salina weiß dies alles – und spielt mit. Aus der Liaison Angelicas mit Tancredi erhofft sich der Fürst, dass seine Familie in Sicherheit leben kann und sein Besitz gewahrt bleibt. Auch bei der Abstimmung für oder wider den neuen König Viktor Emmanuel II. stimmt Salina mit Ja.

    Kaum ein anderer als Luchino Visconti hätte diese Geschichte des schleichenden Verfalls der alten Herrscher Siziliens und des Aufstieges der bürgerlichen Emporkömmlinge derart opulent und überzeugend in Szene setzen können. Und kaum ein anderer als ausgerechnet der amerikanische Schauspieler Burt Lancaster (der ursprünglich für die Rolle gar nicht vorgesehen war) hätte den Fürsten Salina, diesen pragmatischen Patriarchen, derart würdevoll und in der Charakterdarstellung einmalig mimen können. Zunächst dachte Visconti u.a. an Laurence Olivier für die Rolle des Fürsten, und quittierte den Vorschlag, Burt Lancaster zu engagieren, mit der Bemerkung: „Oh nein! Ein Cowboy.“ Lancaster selbst erzählte, Visconti habe ihn dann in dem Film „Das Urteil von Nürnberg“ (1961) gesehen, in dem er den wegen Nazi-Verbrechen angeklagten deutschen Richter Janning gespielt hatte, und sich von der Richtigkeit der Entscheidung für Lancaster überzeugen lassen, einem Film.

    Zu den Höhepunkten des Films gehören die Gespräche zwischen dem Fürsten und seinem „Hauspfarrer“ Pirrone sowie dem Jagdaufseher Don Ciccio (Serge Reggiani) über die Umbrüche der Zeit, aber auch über moralische Fragen, sowie die vierzigminütige Ballszene gegen Ende des Films im Palazzo Ponteleone, bei der die Kamera vor allem zeigt, wie sich der Fürst in all seiner Verzweiflung und Traurigkeit, aber auch in der Gewissheit, seiner Familie durch die Verbindung zwischen Tancredi und Angelica ein Stück Sicherheit verschafft zu haben, durch die jungen, tanzenden Menschen bewegt.

    Deutlich wird der Realitätssinn des Fürsten auch in seinem Verhältnis zu Angelica, in die er verliebt ist. Doch Don Salina weiß, dass nicht nur wegen des Altersunterschieds eine Verbindung zu dieser schönen jungen Frau unmöglich ist. Sein Geschlecht wird nie wieder das sein, was es einmal war. Man sehe in die Augen des Fürsten und Angelicas, während beide in der langen Ballszene tanzen. Es bedarf keiner Worte, um zu erkennen, was in beiden vorgeht.

    Visconti – selbst Marxist – scheute sich in keiner Weise, seiner Sympathie für den pragmatischen Fürsten Ausdruck zu verleihen, während er – wie schon in der Romanvorlage di Lampedusas – für den Bürgermeister und Halsabschneider Don Sedara nur kühle Verachtung übrig hat. Das hat seinen Grund nicht nur in den Personen selbst, sondern vor allem auch in einer besonderen Sichtweise derartiger gesellschaftlicher Umbrüche, in denen die neuen Kräfte „das Alte“ zumeist in Bausch und Bogen verurteilen und beseitigen wollen, während sie sich zugleich von radikalen Kräften in dem Moment absetzen, in dem sie an Macht und Einfluss gewonnen haben. Auch Tancredi – inzwischen samt seinem Freund und Mitstreiter Graf Cavriaghi (Terence Hill in einer Nebenrolle!) „ordentlicher“ Offizier Viktor Emmanuels – hat sich nach dem Sieg über die alten Mächte von Garibaldi losgesagt, den er als Verbrecher und dessen Anhänger er als Pöbel tituliert.

    Gerade diese differenzierte Sicht solcher Umbruchsituationen macht Viscontis Filme zu einem visuellen Erlebnis. Hinzu kommen der Aufwand und die Akkuratesse, mit der Visconti und sein Team bezüglich Kostümen, Ausstattung und nicht zuletzt der Musik Nino Rotas (der später auch für Coppolas Paten-Trilogie die Musik komponierte) der Geschichte das notwendige historische Flair gaben, das den Film zu einem regelrechten Bilderbogen durch das Sizilien dieser Zeit werden lässt. Alain Delon ist einmal nicht als „kalter Engel“ zu sehen, sondern als aufmüpfiger, lebenslustiger junger Mann. Und Claudia Cardinale glänzt in der Rolle der jungen Schönen wie kaum je zuvor. Zu nennen wären noch Rina Morelli in der Rolle der streng katholischen Frau des Fürsten, der sich gezwungen sieht, in Palermo zu einer Prostituierten zu gehen, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen, weil Fürstin Maria Stella im Bett (wenn „es so weit ist“) ein Gebet nach dem anderen spricht. Auch Romolo Valli als Pater Pirrone und Paolo Stoppa als skrupelloser Geschäftsmann der neuen Art Don Sedara passen in dieses voluminöse und dichte Bild Siziliens um 1860 herum.

    Alles in allem ein Meisterwerk filmischer Kunst.

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