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    Essential Killing
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Essential Killing
    Von Björn Becher

    Vincent Gallo war das Phantom der 67. Filmfestspiele von Venedig: Ist er nun da oder ist er doch nicht da? Diese Frage stellte sich täglich aufs Neue. Sowohl bei den Premieren als auch bei den Pressekonferenzen seiner gleich drei Filme wurde er nicht gesichtet. Allerdings machte das Gerücht die Runde, er besuche die Vorführungen inkognito. Umso präsenter war der Schauspieler dafür in seinen Werken: Sein Film „Promises written in water" (Regie, Drehbuch, Produktion, Musik, Schnitt, Ausstattung und Hauptrolle: Vincent Gallo) besteht zum Beispiel nur aus einem langen, sich immer wiederholenden Dialog, bei dem Gallo selbst ununterbrochen im Fokus steht. Sein Meisterstück ist jedoch ein anderes: Jerzy Skolimowskis „Essential Killing" brachte Gallo die „Coppa Volpi" als bester Schauspieler des Festivals ein. Der radikal-politische Thriller ist eine Vincent-Gallo-One-Man-Show und zugleich die packende Schilderung eines Überlebenskampfes, der nachhaltig verstört.

    Ein namenloses Land im Nahen Osten. Der Taliban Mohammed (Vincent Gallo) wird von amerikanischen Truppen durch die Wüste gejagt und schließlich geschnappt. Ohne wirklich zu wissen, was mit ihm geschieht, wird er verhört, gefoltert und schließlich zur weiteren Befragung in ein nicht näher benanntes osteuropäisches Land gebracht. Es kommt zu einem Unfall, in dessen Folge Mohammed seinem Gefangentransport entfliehen kann. Verwundet, mit nur wenig Kleidung und ohne jede Orientierung irrt er durch die Schneemassen. Er muss töten, was ihm über den Weg läuft, um selbst zu überleben. Bis er in der Hütte einer hübschen Frau (Emmanuelle Seigner, „Schmetterling und Taucherglocke") landet...

    Der Titel „Essential Killing" ist Programm: Mohammed tötet einzig und allein, um selbst zu überleben. Wer dieser Mohammed ist, lässt Jerzy Skolimowski bewusst im Dunkeln. Ist er tatsächlich ein Terrorist oder nur ein Taliban-Mitläufer, der fälschlicherweise in die Fänge des amerikanischen Militärs geraten ist? Vereinzelte Rückblenden in sein früheres Leben liefern keine Antwort. Spricht Mohammed Englisch und versteht er die Fragen während seines Verhörs überhaupt? Auch auf diese Frage liefert der fast dialogfreie Film keine definitive Auflösung. Zudem verwischt der Regisseur zunehmend die Grenzen zwischen Mord und Notwehr. Musste Mohammed den Waldarbeiter, der ihn entdeckt hat, tatsächlich umbringen, oder hätte er sich nicht auch auf andere Weise entziehen können? All diese Fragen bleiben offen, damit die Sympathien des Zuschauers nicht manipulativ in die eine oder andere Richtung gelenkt werden. So ergibt sich ein vorurteilsfreier Blick auf die Verschleppungspolitik der USA.

    Das Zentrum des Films bildet eindeutig Vincent Gallo („Tetro", „The Brown Bunny"), der einmal mehr beweist, dass er zwar ein schwieriger Charakter, aber auch ein brillanter Schauspieler ist, der sich mit jeder Faser seines Körpers in eine Rolle hineinwirft. Während er in „Promises Written in Water" unaufhörlich redet, spricht er in „Essential Killing" nicht ein einziges Wort. Wo er in seinem eigenen Werk nur an einem Cafétisch sitzt, wartet er für Jerzy Skolimowski bei Minustemperaturen - teilweise sogar barfuß - selbst durch den tiefsten Schnee. Der Authentizitätsfanatiker Gallo verzichtete dabei auf jegliche Tricks, weshalb er sich bei den Dreharbeiten tatsächlich mit kaum Kleidung am Körper durch die polnische Kälte kämpfte. Obwohl der Regisseur und sein Hauptdarsteller im Verlauf der Dreharbeiten irgendwann kein Wort mehr miteinander sprachen, trieb Jerzy Skolimowksi seinen Star zu einer der eindringlichsten Leistungen seiner Karriere.

    „Essential Killing" folgt Mohammed mit der Handkamera quer auf seinen Irrwegen durch die Wildnis. Der vermeintliche Terrorist tötet, kotzt Blut und zwingt eine junge Mutter, ihm die Brust zum Saugen darzureichen. Jerzy Skolimowksis kompromisslose Darstellung des Kampfes eines Mannes gegen Mensch und Natur offenbart in Form dieser Frau zum ersten und einzigen Mal so etwas wie einen Hoffnungsschimmer. War es vorher nur eine Frage der Zeit, bis ihn seine wesentlich besser ausgerüsteten Häscher einholen würden, erscheint Mohammeds Überleben plötzlich als reelle Möglichkeit. Wir sich auf den eigenwilligen Erzählstil eingelassen hat, wird ihm spätestens von hier an die Daumen drücken – ganz egal, ob er nun wirklich ein Terrorist ist oder nicht...

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