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    Der Junge mit dem Fahrrad
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Junge mit dem Fahrrad
    Von Ulf Lepelmeier

    Bei der Eröffnung des Münchner Filmfests 2011 erklärte der nach acht Jahren zurücktretende Festivalleiter Andreas Ströhl, dass sich die Filme des 29. Filmfestivals insbesondere jungen Menschen in Extremsituationen widmeten, die sich in einer verstörenden, konfliktbeladenen Welt behaupten müssten. So gehe es sowohl im Eröffnungsfilm der Brüder Dardenne als auch im Abschlussfilm von Aki Kaurismäki („Le Havre") um mutige Jungen, die voller Entschlossenheit gegen ihre tragischen Lebenssituationen ankämpften und sich nach Nähe sehnten. Mit „Der Junge mit dem Fahrrad" konnte Festivalleiter Ströhl den Gewinner des Großen Jurypreises von Cannes für das Publikumsfestival an die Isar holen. Das sich perfekt in das Oeuvre des Regiebrüdergespanns Dardenne Jean-Pierre und Luc einfügende Sozialdrama spiegelt einmal mehr schonungslos die Realität am unteren Rande der Gesellschaft wider, ist dabei aber ungewöhnlich hoffnungsvoll ausgefallen. Mit einem ungeheuer intensiv aufspielenden Protagonisten und einer gekonnten Inszenierung ist die Geschichte des ungestümen Jungen Cyril packend, bewegend und absolut sehenswert.

    Der 11-jährige Cyril Catoul (Thomas Doret) ist in einem Kinderheim untergebracht und wünscht sich nichts sehnlicher, als zu seinem Vater Guy (Jérémie Renier) zurückzukehren. Doch dieser hat seine Telefonnummer abgemeldet, seine Wohnung verlassen und das geliebte Fahrrad seines Sohnes einfach zu Geld gemacht. Der kaum zu bändigende Cyril will nicht wahrhaben, dass der Alte keinen Kontakt mehr zu ihm wünscht, und begibt sich auf die Suche nach ihm. Mit unbeugsamen Willen fahndet der störrische Junge nach seinem geliebten Vater und bricht dafür aus dem Heim aus. Dabei trifft er auf die Friseurin Samantha (Cécile de France), an die er sich impulsiv klammert, als ihn die Heimangestellten zurückholen wollen. Sie hat Mitleid mit dem Jungen, kauft ihm sein Fahrrad zurück und bietet sich als Pflegemutter für die Wochenenden an, aber Cyril zeigt sich wenig dankbar und scheint mit ihrer Hilfe nur seinen Vater auffinden zu wollen. Doch die Zusammenkunft mit seinem Erzeuger läuft anders als erhofft...

    Wie in ihren vorherigen Werken begleiten die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne („Lornas Schweigen", „Rosetta") ohne falsche Sentimentalität, dafür aber mit großem Einfühlungsvermögen Menschen am Rande der Gesellschaft und erzählen dabei eine dokumentarisch anmutende Geschichte rund um Versuchung, Schuld und Sühne. Die Kamera ist den Film über ganz nah an dem jungen, umtriebigen Protagonisten Cyril, der sich zu Fuß oder auf dem Fahrrad fortwährend in Bewegung befindet. Cyril ist aber kein süßer, braver Junge, sondern ein schwieriges Kind, das sich nicht einfach kontrollieren lässt und beständig auszurasten droht. Das Publikum kann allerdings nur erahnen, wie viele Enttäuschungen der 11-Jährige schon verkraften musste. Sein unbändiger Wille und sein entschlossener, wenn auch aussichtsloser Kampf um die Liebe seines herzlosen Vaters, sind ergreifend - insbesondere weil Thomas Doret den kleinen Kämpfer Cyril mit einer enormen Präsenz darstellt. Die Entschlossenheit sowie die unbändige Verzweiflung auf Grund des ihn ablehnenden Vaters sind in den Augen des Jungschauspielers, den die Dardenne Brüder aus 150 Bewerbern auswählten, jederzeit ablesbar.

    Jérémie Renier spielt den Vater, der seinen Sohn am liebsten vollkommen aus seinem Leben verbannen würde, mit erschreckender Gleichgültigkeit. Dabei könnte sein Guy Catoul gar eine gereifte Version des ebenfalls von ihm verkörperten Protagonisten Bruno aus dem Dardenne-Werk „Das Kind" sein, der sein wenige Tage altes Baby einfach verkauft. Die herzensgute Samantha besetzten die Brüder Dardenne entgegen ihrer Gewohnheiten mit der bereits im französischen Kino etablierten Actrice Cécile De France („Hereafter - Das Leben danach", „Ein Geheimnis"), die der Friseurin eine warme Herzlichkeit verleiht. Die Figur der Samantha repräsentiert dabei die Hoffnung des Jungen, dem die Welt ansonsten nur übel mitzuspielen scheint. Ganz egal, wie respektlos und undankbar er sich gegenüber Samantha verhält, sie behält mit einer Engelsgeduld ihren Glauben an den 11-Jährigen bei, versucht für ihn da zu sein und ihm ein gutes Leben zu ermöglichen.

    Samantha bringt als extremer Gutmensch mit einem nicht näher begründeten oder hinterfragten Verantwortungsgefühl dem Jungen gegenüber etwas Märchenhaftes in den ansonsten von moralischen Lektionen und zerstörten Kinderwünschen dominierten düsteren Film. Die leuchtende Frauenfigur, deren altruistische Hilfsbereitschaft eher als verklärter Wunsch denn als realistische Charaktereigenschaft erscheint, sorgt aber auch dafür, dass „Der Junge mit dem Fahrrad" trotz dokumentarischer Härte zum versöhnlichsten Werk des belgischen Regiegespanns gerät. „Der Junge mit dem Fahrrad" knüpft stilistisch wie inhaltlich an die vorherigen sozialkritischen Filme der Brüder Dardenne an. Die Geschichte um den widerborstigen Jungen Cyril, der mit allen Mitteln um die Liebe und Anerkennung anderer kämpft und dabei immer wieder schmerzliche Niederlagen hinnehmen muss, ist ein exzellent beobachtetes, ergreifendes Sozialdrama.

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