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    22. Mai
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    22. Mai
    Von Robert Cherkowski

    Was für ein Paukenschlag: Mit seinem Spielfilmdebüt „Ex Drummer" von 2007 hat sich der ehemalige Werbefilmer Koen Mortier in die erste Riege junger europäischer Bilderstürmer vorgekämpft und eine eindrucksvolle Visitenkarte hinterlassen, mit der er sich auch vor den Werken Gaspar Noés („Irreversibel"), Jan Kounens („Dobermann") oder Nicolas Winding Refns („Drive", „Bronson") nicht zu verstecken braucht. Die wüste Studie über Menschenverachtung, das soziale Abseits und schlechte Punkmusik erlangte schnell Kultstatus, Mortier gewann eine treue Fanschar. Gute vier Jahre hat der Belgier sich danach Zeit gelassen. Jetzt präsentiert er mit dem Attentatsdrama „22. Mai" seinen Zweitling. Mit diesem düsteren, bewegenden und eher leisen Werk, in dessen Mittelpunkt die Bombenexplosion in einem Shoppingcenter steht, zeigt Mortier, dass er nicht nur die grellen filmischen Ausdrucksmittel virtuos beherrscht.

    Für Sicherheitsmann Sam (Sam Louwyck) sollte es ein weiterer trister Tag in seinem tristen Leben werden. Seit ein paar Jahre zuvor seine Tochter bei einem Autounfall starb, schafft er es nur mit einiger Mühe, sich Tag für Tag aus dem Bett zur Arbeit als Wächter in einem städtischen Einkaufszentrum zu schleppen. An jenem titelgebenden 22. Mai jedoch betritt ein verzweifelter junger Mann (Titus de Voogdt) die Einkaufspassage und sprengt sich in die Luft. Der Druck der Explosion lässt Sams Trommelfell platzen und wirft ihn verletzt zu Boden. Geistesgegenwärtig trägt er einige der verwundeten Besucher ins Freie und rennt anschließend unter schwerem Schock durch die Straßen, verfolgt von den „Geistern" der Opfer: Ein junge Mutter, die ihr Kind verloren hat, ein trauriger Lüstling, der in den Umkleidekabinen masturbierte, ein Detektiv und ein Transportarbeiter mit Liebeskummer begegnen Sam und machen ihm Vorwürfe, dass er die Katastrophe nicht verhindert hat...

    Sam Fuller meinte einst, ein Film solle „mit einer Explosion beginnen und sich dann zunehmend steigern". Mortier macht es andersrum – und gewinnt. Nach der Explosion kehrt bedrückende Stille ein, nur langsam wird sie überwunden. Über die Hälfte des verhältnismäßig kurzen Films braucht es, ehe man sich in der emotionalen Trümmerwüste von „22. Mai" zurechtfindet. Und selbst dann kann nur darüber spekuliert werden, was genau hier gespielt wird: Bereits die Inhaltsgabe ist als Interpretation zu verstehen. Tatsächlich ist es genauso gut möglich, dass Sam in der Explosion umkam und er nun selbst geisterhaft durch ein tristes Jenseits stolpert. Unabhängig von der Lesart gehören die Aufnahmen der menschenleeren Stadt zum atmosphärisch Intensivsten, was das Filmjahr 2011 zu bieten hat. So düster und deprimierend die namenlose belgische Provinz hier eingefangen wird, möchte man sich das Jenseits ganz sicher nicht vorstellen. „22. Mai" wird nach seinem langen Auftakt, der von der Verzögerung des Unvermeidlichen lebt, zu einem rätselhaften und stillen Drama des ziellosen Umherirrens.

    Wie ein unruhiger Geist – und vielleicht ist er ja genau das – schreitet Sam über weite Phasen des Films durch verlassene Gassen, leerstehende Flure, einsame Unterführungen und verwaiste Wohnungen. Auch vor den Dimensionen von Zeit und Raum macht sein Irrweg keinen Halt: Vergangenheit, Gegenwart, Traum und Realität wirbeln munter durcheinander. Die Darsteller – zum Großteil Veteranen aus „Ex Drummer"-Zeiten – nutzen ihre „Geisterrollen" zu exaltierten und energiegeladenen Parforceritten, wobei sie den Bogen nie überspannen und sich immer in den Dienst ihrer Rollen stellen. Das kommt in der zweiten, etwas gesprächigeren aber auch temporeicheren Filmhälfte besonders zum Tragen, in der sich die tragischen Schicksale der einzelnen Figuren trotz der elliptischen Erzählweise eindrucksvoll entfalten.

    Mortier lässt die wilde Inszenierung seines brachialen Erstlings mit diesem tonnenschweren Brocken von einem Film weit hinter sich. Wo ein Gaspar Noé mit „Enter The Void" der Grauzone zwischen Leben und Tod noch mit greller, erschlagender Wucht begegnete und jedes Popvideo an Extravaganz in den Schatten stellte, misst sich Mortier filmisch diesmal lieber am polnischen Schmerzensmann Krzysztof Kieslowski und an dessen „Dekalog". Er geht hochkonzentriert zu Werke und verzichtet auf selbstgenügsame filmische Taschenspielertricks. Mit „22. Mai" zeigt er, dass er auch in der Lage ist, einen bewegend-dramatischen Erzählfluss zu schaffen, Gänsehaut sondergleichen erzeugt er schließlich mit einem Finale, in dem alle Fäden aufgegriffen und festgezogen werden - die abschließende Montage empfiehlt sich dann auch gleich als eine der besten Szenen des Filmjahres. Manchmal sind noch die durchdringendsten Paukenschläge ganz leise!

    Fazit: Der zweite Film ist häufig der schwerste – für Koen Mortier und sein stilles Drama „22. Mai" gilt dieses ungeschriebene Gesetz für Regieanfänger nicht. Der Belgier bestätigt vielmehr eindrucksvoll sein Talent und sorgt mit seiner Geschichte eines Attentats und seiner Folgen für Gänsehaut sowie für einige der intensivsten Momente des Kinojahres.

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