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    Tag und Nacht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tag und Nacht
    Von Michael Kohler

    Als vor einigen Jahren die junge Französin Laura D. gestand, ihr Studium als Call-Girl finanziert zu haben, wurden ihre intimen Bekenntnisse als Sensation gefeiert. Seitdem hat ihr Buch „Mein teures Studium" auch in Deutschland mehrere Nachahmer gefunden („Und nach der Vorlesung ins Bordell", „Fucking Berlin – Studentin und Teilzeit-Hure") und eine Umfrage ergab, dass sich ein Viertel der Studentinnen und Studenten vorstellen kann, in der Sexindustrie zu jobben. Nach diesen Zahlen müsste sich Sabine Derflingers neuer Film „Tag und Nacht" zum großen Erfolg in studentischen Kinos mausern, denn sie erzählt die Geschichte zweier Freundinnen, die neben der Uni bei einem mittelständischen Escort-Service anheuern. Sie vermeidet dabei souverän die beinahe unvermeidlichen Untiefen des Themas: In ihrem dokumentarisch angehauchten Drama gibt es weder auf Hochglanz polierte Sexszenen noch lässt sie ihre Figuren durchs reinigende Fegefeuer gehen.

    Die befreundeten Studentinnen Lea (Anna Rot) und Hanna (Magdalena Kronschläger) sind knapp bei Kasse und entschließen sich, als Call-Girls zu arbeiten. Es ist eine pragmatische Entscheidung unter der Bedingung, dass sie aufeinander aufpassen und die Kontrolle über ihr Leben in der eigenen Hand behalten. Die Kunden führt ihnen der Kleinunternehmer Mario (Phillipp Hochmair) zu. Nachdem die erste Scheu überwunden ist, scheint der Escort-Service beinahe ein Job wie jeder andere zu sein – bis sich die Grenzen, was die Freundinnen für Geld zu tun bereit sind, immer weiter zu verschieben drohen. Auch ihr Privatleben bleibt nicht mehr unberührt: Lea ertränkt ihre Enttäuschungen in Alkohol und Hannas Studienfreund kommt hinter ihr Geheimnis...

    Am Anfang von „Tag und Nacht" steht eine Fotosession: Mario lichtet eine Mitarbeiterin für das Internet-Schaufenster ab und bedient sich dabei der anfeuernden Sprüche, die man so ähnlich aus Ulrich Seidls „Models" kennt. Sabine Derflinger scheint sich in dieser Szene kurz vor dem bekanntesten Vertreter des österreichischen Realismus zu verbeugen, mit dem sie zwar nicht das strikte Stilbewusstsein, neben der Herkunft aber auch das Grenzgängertum zwischen Fiktion und Realität gemein hat. In Derflingers Filmografie halten sich Spiel- und Dokumentarfilme in etwa die Waage, als roter Faden zieht sich das Thema Geld und Arbeit durch beide Gattungen. Für „Schnelles Geld" porträtierte sie Bettler in einer Wiener Einkaufsstraße, „Vollgas" ist die fiktive Geschichte einer jungen Mutter, die als Kellnerin das Nötigste verdient, und in „Hotspot" zeigt Derflinger Langzeitarbeitslose auf dem schwierigen Weg zurück auf den Arbeitsmarkt.

    Dieser dokumentarisch geschulte Blick prägt auch „Tag und Nacht". Für Sabine Derflinger bietet die von ihr selbst und Eva Testor entworfene Geschichte eine willkommene Möglichkeit, hinter die verschlossenen Türen der Prostitution zu blicken. Die Begegnungen mit den Kunden wirken überzeugend recherchiert und sind in einem realistischen Stil gehalten, der die sexuellen Handlungen weder schamhaft zudeckt noch ins übliche Rotlicht taucht. Obwohl der berufliche Alltag etwas schäbig wirkt, wird niemand bloßgestellt – selbst ein Freier mit ungewöhnlichen Vorlieben erscheint in diesem geschäftlichen Umfeld als normal. Anders als bei Ulrich Seidls Filmen hat man deshalb nie das seltsame Gefühl, durchs Schlüsselloch auf Exhibitionisten zu schauen. Die konventionelle Erzählweise von „Tag und Nacht" erweist sich in dieser Hinsicht als Gewinn.

    Manchmal ist Derflingers Inszenierung allerdings schon wieder zu lakonisch und zurückhaltend – weil der künstlerische Mehrwert ausbleibt, wirken die mitgelieferten Erkenntnisse teilweise etwas banal. Natürlich ist es eine Illusion, in diesem Job alles unter Kontrolle behalten zu können, und natürlich ist nicht jede/r dafür gemacht. Zu Beginn des Films erhält Hanna einen Rat von einem erfahrenen Call-Girl: „Ein Geruch und eine Geschichte – mehr als das verwirrt die Männer." Am Ende kann nur eine der beiden Freundinnen auf Dauer in diese Rolle schlüpfen und bei Nacht jemand anderes sein als bei Tag.

    Fazit: Sabine Derflinger umschifft in ihrem Film über zwei Freundinnen, die sich das Studium als Call-Girls finanzieren, souverän die Untiefen des Themas und überzeugt mit einem nüchternen, aber nie unbeteiligten Blick auf das Sexgewerbe.

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