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    Inherent Vice - Natürliche Mängel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Inherent Vice - Natürliche Mängel
    Von Carsten Baumgardt

    Der gefeierte Filmemacher Paul Thomas Anderson („Magnolia“, „There Will Be Blood“) ist nie dem Lockruf des Mainstreams gefolgt, anders als zum Beispiel sein ähnlich talentierter Kollege Christopher Nolan, der mit obskuren Arthouse-Filmen begann und nun anspruchsvolle Blockbuster von höchster Qualität in Serie abliefert. Der Kalifornier Anderson scheint sich dagegen nicht übermäßig für Zuschauerzahlen zu interessieren, er macht einfach, was ihm gefällt und dabei ist sein Wille zur (Film-)Kunst ungebrochen, wie er zuletzt mit seinem eigenwilligen Sekten-Drama „The Master“ unterstrichen hat. Ändert er nun mit der Verfilmung von Thomas Pynchons Stoner-Roman „Inherent Vice“ seine Einstellung? Natürlich nicht! Ganz im Gegenteil: Der satirisch-humoristische Drogen-Thriller (deutscher Untertitel: Natürliche Mängel) ist ein pathologisch eigensinniger, selbstbewusst-stilsicher inszenierter wirr-charmanter Trip, der wahrscheinlich kein großes Publikum finden, aber anspruchsvolle Filmliebhaber mit einem Sinn für das wahrhaft Außergewöhnliche in Verzückung versetzen wird.  

    Gordita Beach, Los Angeles, 1970: Privatdetektiv Larry „Doc“ Sportello (Joaquin Phoenix) verbringt den Tag vorzugsweise im Marihuana-Nebel. Deswegen wundert sich der leidenschaftliche Stoner auch nicht, als seine Ex-Freundin Shasta Fay Hepworth (Katherine Waterston) ihm einen Besuch abstattet und ihm eine abenteuerliche Geschichte auftischt: Ihr Liebhaber, der schwerreiche Immobilien-König Mickey Wolfmann (Eric Roberts), soll entführt werden! Dessen Frau Sloane (Serena Scott Thomas) und deren Lover Riggs Warbling (Andrew Simpson) wollen den Baulöwen in eine psychiatrische Anstalt stecken, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Doc soll diesen teuflischen Plot verhindern. Doch als Sportello erste Nachforschungen anstellt, verschwindet Shasta plötzlich - und auch Wolfmann ist wie vom Erdboden verschluckt. Als der Detektiv bei Ermittlungen in einer Massage-Kaschemme in der Wüste niedergeschlagen wird und neben einer Leiche aufwacht, wird es immer verworrener. Doc muss mit dem fanatischen Cop Christian „Bigfoot“ Bjornsen (Josh Brolin) kooperieren, um nicht als Mordverdächtiger zu gelten und den Fall zu lösen. An seiner Seite hat er den kaltschnäuzigen Anwalt Sauncho Smilax (Benicio del Toro), der ihm den Rücken frei hält. Und auch eine weitere Ex Sportellos ist hilfreich: die stellvertretende Staatsanwältin Penny Kimball (Reese Witherspoon)…

    Die Handlung klingt absurd, verwirrend und kompliziert, dabei ist das oben Beschriebene nur die Spitze des Eisbergs und der Auftakt zu einem zunehmend verrückten Geschehen. Genüsslich reiht Paul Thomas Anderson eine irre Posse an die andere, die Lage wird immer unübersichtlicher, bis einem irgendwann aufgeht, dass uns der Regisseur genial an der Nase rumführt: Was als Whodunit-Thriller mit ironisch-satirischer Grundierung beginnt, wird zu einem knallbunten California-Neo-Noir-Film voller schrägen Humors, wobei die Handlung absolut nebensächlich ist und schließlich ins absolute Nichts führt. Am wichtigsten sind hier der Fluss der Bilder und die Stimmungen, auf denen die Storyreste elegant dahingleiten. „Inherent Vice“ fühlt sich an wie ein sanfter Marihuana-Trip: getragen von exquisit-coolen Bildkompositionen und einem lässigen 70er Soundtrack, begleitet von der relaxten Off-Erzählerin Sortilège (Joanna Newsom). Am Rande mischen Neo-Nazi-Motorradgangs, radikale schwarze Aktivisten, spirituelle Erleuchter, Gangster-Syndikate und das FBI mit, dazu weht der explosive Geist des Vietnamkriegs und der Charles-Manson-Ära über das sonnendurchflutete Los Angeles, für das Regisseur Anderson und sein Kameramann Robert Elswit („There Will Be Blood“) selten gezeigte Schauplätze finden.

    Man kann „Inherent Vice“ als eine Mixtur aus „Tote schlafen fest“, „Chinatown“, „Jackie Brown“ und „The Big Lebowski“ beschreiben, aber er ist noch viel mehr als das. Vor allem seine zentrale Figur Doc Sportello ist eine Marke für sich: Er trägt die Koteletten des Jahres mit Coolness und Würde, selbst eine Afro-Frisur wirkt bei diesem blassen Detektiv irgendwie passend. Doc ist schlicht ultracool, er schwebt über den Dingen, nimmt nichts zu ernst, aber auch nichts auf die leichte Schulter. Er ist Humanist! Die Suche nach seiner Ex treibt ihn voran, genauso wie die Hassliebe zu LAPD-Cop Bjornsen, die Wege der beiden kreuzen sich permanent. Joaquin Phoenix („The Master“, „Gladiator“) spielt auch den dauerbekifften Doc mit seiner berühmt-berüchtigten manischen Hingabe und geht ganz in der Rolle auf. Trotzdem ist „Inherent Vice“ bei weitem keine Solo-Show. Denn Josh Brolin („No Country For Old Men“) dreht als durchgeknallt-unberechenbarer Hard-Boiled-Cop „Bigfoot“ Bjornsen ganz groß auf und variiert mühelos zwischen hartem Macker, verständnisvollem Profi-Ermittler und weinerlichem Pantoffelhelden. Auch Katherine Waterston („Michael Clayton“) erweist sich in der Schlüsselrolle der Shasta Fay Hepworth mit ihrer undurchsichtig-coolen Mischung aus Lolita und Femme Fatale als Volltreffer. Welche Rolle(n) Owen Wilson („Midnight In Paris“), der überall da ist, wo auch Doc Sportello auftaucht, dagegen in dieser Geschichte spielt, soll jeder Zuschauer für sich selbst entdecken.  

    Fazit: Paul Thomas Anderson fordert ein aufgeschlossenes Publikum mit einer episch-kryptischen Story auf dem Weg nach Santa Nirgendwo heraus. Die poetisch-psychedelische Atmosphäre, die charmant-seltsamen Figuren und die stilsicher-virtuose Inszenierung machen „Inherent Vice“ zu einem Meisterwerk des Schrägen.

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