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    23 - Nichts ist so wie es scheint
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    23 - Nichts ist so wie es scheint
    Von Hans Riegel

    Hans-Christian Schmids authentisches Drama „23 - Nichts ist so wie es scheint" hat Dokumenten- und Dokumentationscharakter; das Intro schon verspricht den Blick in vergangene Zeiten, prägende Ereignisse, verspricht Geschichte, verbindet Symbole mit Persönlichkeiten und Persönlichkeiten mit Ereignissen - und blendet über ins Leben Karl Kochs, eines politisch engagierten Jungen, der an Demonstrationen teilnimmt und für die liberale Jugendzeitung „Kaktus" Artikel schreibt, um die von seinem konservativen Vater gesteckten Grenzen zu übergehen; er weiß: „Entweder man passt sich an oder man rebelliert."

    Karl (August Diehl) ist auf sich allein gestellt, hat nur mehr seine Freunde und ein Erbe von 50.000 D-Mark, als sein Vater, der „Redaktionsleiter einer rechten Hannoveraner Zeitung", stirbt. Bald vertieft er sich in den Roman „Illuminatus!" (eigentlich eine Trilogie) von Robert Shea und Robert Anton Wilson, der von einer Gruppierung erzählt, die, angeführt vom charismatischen Helden Captain Hagbard Celine, in einem goldenen Unterseeboot durch die Weltmeere zieht und die Pläne des Geheimordens der Illuminaten [1] zu durchkreuzen sucht.

    Mit seinen Freunden kann Karl nicht über das Gedankengut des Romans sprechen; niemand scheint seine Begeisterung für die Theorien, die Zusammenhänge, Referenzen, Andeutungen zu teilen, die Karl darin entdeckt; denn er sieht mehr als die fiktive Geschichte des ideologischen Kämpfers, er sieht, dass darin Wahrheit steckt, so offensichtlich, wie dass alle großen Anarchisten am 23. eines Monats gestorben sind, so offensichtlich, wie dass George Washington schließlich kein anderer war als der Gründer des Illuminatenordens, Adam Weishaupt. So nutzt er das Internet und die Mitte der 1980er gerade im Aufkommen begriffenen Chatlines und Chatrooms, um mit anderen Austausch zu halten. Erfolgreich... Als eines schönen Tages Robert A. Wilson zu einem Vortrag auf eine Tagung des Chaos Computer Clubs (CCC) nach Hamburg kommt, nimmt Karl diese Gelegenheit beim Schopfe und trifft so gleichgesinnte Leser, Computerfreaks, Hacker - unter ihnen ist Goliath, der eigentlich David (Fabian Busch) heißt. Er ist, wie Karl, von dem Roman, vor allem aber seiner Numerologie, fasziniert, und so freunden sie sich an.

    Auf der ersten CeBIT in Hannover treffen Karl und David 1986 auf Lupo (Jan Gregor Kremp) und Pepe (Dieter Landuris), einen abgehalfterten, desertierten Programmierer und einen kleinen Drogendealer, der die Mode der 70er Jahre in das Jetzt des Films zu retten versucht. Pepe habe, so sagen die beiden, das Potenzial der beiden Hacker ahnend, Kontakte in den Osten, zum KGB, welche man, ganz im Sinne der Ethik des Hackens, dazu nutzen sollte, denen, die „technisch im Rückstand" seien, zu helfen und nebenbei ein bisschen Bares zu scheffeln. Obschon die beiden Bedenken hegen, machen sie schließlich bei der Sache mit, denn gilt es doch insbesondere für Karl, Informationen frei zugänglich zu machen, gleiche Chancen zu schaffen und so vielleicht den Frieden zu wahren, mitten im Kalten Krieg. Die Sache läuft zuerst ausgezeichnet: Die Russen bezahlen fürstlich und David und Karl hacken des Nachts was das Zeug hält; sie verlassen die Tag- und betreten die Nachtwelt, um die günstigeren Tarife nutzen zu können. So haben irgendwann die Tage nicht mehr 24 Stunden, so muss oftmals der Schlaf zugunsten der Beschaffung des vom KGB geforderten Materials ruhen. Karl kifft, trinkt und kokst, um sich bei Laune, wie, um sich bei Bewusstsein zu halten. Keine Frage, dass diese Angelegenheit nicht glimpflich enden wird...

    Mit Deep Purples „Child in Time" beginnt behutsam die Reise in die archivierte Welt Karl Kochs, der ein Hacker war, ein Spion des KGB in Westdeutschland zur Blütezeit des Kalten Krieges, als den Menschen klar wurde „Wissen ist Macht", als Karl Koch gerade 20 Jahre alt geworden war. Karl entwickelt sich vom jugendlichen Aktivisten, dank Pepes Drogen, den Hackes für den KGB, zum paranoiden Junkie, der ohne Koks nicht arbeiten, ohne Arbeit kein Geld verdienen und ohne dieses Pepes Drogen nicht bezahlen kann. Mithilfe von „Illuminatus!", den er zwischen 50- und 60 Mal gelesen hat, taucht er immer tiefer auf den Grund des Meeres, zum goldenen Unterseeboot; er lebt mit Hagbard Celine, nein, als Hagbard Celine, als Anarchist und Anführer einer Gruppierung von Anarchisten in einer separaten Welt und schützt sie vor der Einflussnahme durch die Illuminaten. Seine paranoiden Wahnvorstellungen beziehen sich auf illuminatisch beeinflusste Katastrophen, die über die Welt, über ihn kommen, auf Krieg, Überwachung und Gedankenkontrolle.

    „Sweet child in time you'll see the line / The line that's drawn between the good and the bad [...]" [2] Es besteht Uneinigkeit, ob das verlorene „sweet child in time" oder lediglich das künftig sehende „sweet child" besungen wird. Auch im Falle Karl Kochs ist diese Frage unentschieden: Ist Karl in seiner Zeit verloren, von den eintretenden Ereignissen und herrschenden Ängsten überfordert oder befindet er sich schlicht noch auf der Suche, auf jener individuellen Suche nach dem eigenen Weg? „Child in Time" galt als die inoffizielle Hymne der demokratischen Untergrundbewegung im Ostblock, mit der nun Karl im Zuge des Lebens seiner ethischen Überzeugungen eine „kollektiv deutsch-sowjetische Freundschaft" eingeht.

    Schauspielerisch dominiert in diesem Sinne zweifelsohne Hauptdarsteller August Diehl als jugendlicher Hitzkopf wie als versierter Hacker, der, schließlich paranoid, als psychischer Pflegefall und Auftragsfahrer für die Hannoveraner CDU mit sich nichts mehr anzufangen weiß. An zweiter Stelle ist Jan Gregor Kremp zu nennen, der seinem Lupo, trotz nicht ständiger Präsenz, starkes Profil verleiht und als Gefahrenherd gegenwärtig bleibt, während Fabian Busch etwas blass erscheint und Dieter Landuris' Pepe zwar nicht allzu ernst genommen, aber doch als kumpelhaft-verschlagener Geschäftspartner überzeugend genannt werden kann.

    „23" stellt, vielmehr denn Karl Kochs Leben als Hacker, das mit dem Bekanntwerden des gesamten Skandals erst scheinbare Bedeutung gewann, seinen Niedergang, analog zur öffentlichen Spionagegeschichte, heraus. Es geht um einen jungen Mann, gerade einmal Anfang 20, der sich in fiktionale Welten flüchtet, da er allein und nur auf sich gestellt ist; es geht weiter um die Verführung dieses begabten, idealistischen Jungen, um die Profitgier zweier Versager; es geht endlich auch um Freundschaft und darum, wie wichtig sie ist, denn erst als David sich von ihm abwendet, scheint Karls Untergang besiegelt. Hans-Christian Schmid, der mit viel Aufwand und Liebe diesen filmischen Nachruf auf einen verlorenen Sohn seiner Zeit, seines Jahrgangs gar, abfasst, gelang ein einfühlsames Werk, das, von vollendet ausgewählten Musiktiteln getragen, insbesondere angesichts des deutschen Kinos der letzten Jahre, aller Ehren wert ist und die bereits erwiesenen sicher verdient hat.

    [1]Illuminaten

    Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Illuminatenorden

    „Der deutsche Illuminatenorden (von lateinisch illuminati - die Erleuchteten) war eine am 1. Mai 1776 vom Philosophen und Kirchenrechtler Adam Weishaupt in Ingolstadt gegründete aufklärerische Geheimgesellschaft. [...] Der Illuminatenorden war ganz dem Weltbild der Aufklärung verpflichtet. Ziel war die Verbesserung und Vervollkommnung der Welt im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und die Verbesserung und Vervollkommnung seiner Mitglieder." „Bis heute wird in zahlreichen Verschwörungstheorien kolportiert, die Illuminaten hätten nach ihrem Verbot weiter bestanden und seien verantwortlich für eine Vielzahl von Erscheinungen, die von den Verbreitern solcher Mythen als unerfreulich beurteilt werden, nicht zuletzt für die Französische Revolution."

    [2] Lyrics zu „Child in Time" von Deep Purple

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