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    Mitten im Sturm
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Mitten im Sturm
    Von Michael Smosarski

    Die sowjetischen Gulags gehören zu jenen dunklen Kapiteln der Weltgeschichte, die filmisch bislang kaum ausgeleuchtet wurden. 20 Millionen Menschen waren zwischen den 1920er und 1950er Jahren in den Arbeitslagern interniert, die Todesrate wird in der Forschung je nach statistischer Argumentation auf bis zu 50 Prozent geschätzt. Regisseurin Marleen Gorris will das Unfassbare am Beispiel einer historischen Häftlings-Biographie fassbar machen. Mit „Mitten im Sturm" erzählt sie die Geschichte von Evgenia Ginzburg, die zehn Jahre Haft überlebte. Um die furchtbaren Zustände in den Arbeitslagern filmisch greifbar zu machen, ist ihr Drama jedoch zu blankpoliert. Mit ihrem Verzicht auf verstörende Lager-Impressionen schont Gorris ihr Publikum, übergeht so aber auch einen zentralen Aspekt der Ginzburg-Biographie.

    Evgenia Ginzburg (Emily Watson) ist Professorin für russische Literatur und treues Parteimitglied. Dennoch gerät sie ins Visier des stalinistischen Machtapparates und wird auf der Grundlage fingierter Beweise bezichtigt, eine Dissidentin zu sein. In einem Scheinverfahren wird die Mutter zweier Kinder zu zehn Jahren Haft in einem „Besserungsarbeitslager" verurteilt. Nur schrittweise findet die gebrochene Frau aus ihrer emotionalen Isolation im Lager – über ihr literarisches Schaffen und eine vorsichtige Romanze mit dem Lagerarzt Dr. Anton Walter (Ulrich Tukur)...

    Marleen Gorris nimmt sich viel Zeit, ihre Figuren einzuführen und Identifikationspotential zu schaffen. In idyllischen Sequenzen zeigt sie das glückliche Familienleben der Protagonistin und den universitären Alltag der bei den Studenten beliebten Dozentin. Schleichend jedoch halten Angst und Paranoia Einzug – dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Professor wird festgenommen und auch Ginzburg gerät unter Verdacht, nicht länger linientreu zu lehren. Die Hilflosigkeit ihrer Protagonistin bebildert Gorris nachdrücklich mit kafkaesken Einstellungen, die eine in gewaltigen Konferenzräumen und Amtsgebäuden verlorene Ginzburg zeigen. Der erste Akt des Films überzeugt auf ganzer Linie – bis hin zum starken Match Cut, der die Wandlung der selbstbewussten Frau zum erschöpften Opfer der Beugehaft auf den Punkt bringt.

    Der inszenatorische Duktus der Regisseurin ist zurückhaltend, die Kamera-Arbeit ruhig und konzentriert, das Spiel von Emily Watson souverän. Sobald es aber darum geht, die Leiden der Inhaftierten im Gulag zu zeigen, fehlt Gorris ein klares visuelles Konzept – durch den Verzicht auf drastische Bilder wirkt der Lageralltag phasenweise nahezu erträglich. Die Regisseurin tut zwar gut daran, „Mitten im Sturm" nicht als Horrorkabinett zu inszenieren, bei der Schilderung eines der größten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts hätte sie ihrem Publikum allerdings mehr zumuten müssen. Auch befremdet im Kontext eines mit eiserner Faust kontrollierten Arbeitslagers, dass Ginzburgs Romanze mit Dr. Walter so reibungslos und unbescholten verläuft.

    Dennoch lässt „Mitten im Sturm" nicht kalt. Sei es aufgrund der durchweg guten Schauspielleistungen, der atmosphärischen Fotografie von Arkadiusz Tomiak – und der bereichernden Zitate des russischen Dichters Ossip Mandelstam, die Ginzburgs Sehnsüchte und Ängst leitmotivisch hervorheben. Mandelstam selbst starb in Lagerhaft. Als filmische Annäherung an den unmenschlichen Alltag in sowjetischen Gulags ist „Mitten im Sturm" schlichtweg zu vorsichtig inszeniert – als Erzählung über verlorenen und neu gefundenen Lebensmut hingegen funktioniert Gorris' Adaption der Ginzburg-Biographie einwandfrei.

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