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    Turistas
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Turistas
    Von Jana Valeska Chantelau

    Im Vergleich zu Dorfbewohnern sind Städter öfter psychisch krank: Das fanden zumindest Psychologen und Neurologen von der Universität Cardiff heraus. Als Ursache machten sie den Mangel an Zusammenhalt in der Stadtbevölkerung aus, Abhilfe versprechen gelegentliche Auszeiten vom urbanen Leben. Eine ähnliche Diagnose stellt die chilenische Autorenfilmerin Alicia Scherson in ihrem feinfühligen Selbstfindungsdrama „Turistas". Die Regisseurin erzählt von Lebenspartnern, die sich füreinander verbiegen und aneinander vereinsamen. Das Gespür für die eigene Person droht auf der Strecke zu bleiben und erst weit weg vom städtischen Alltag ist Heilung zu finden.

    Carla (Aline Küppenheim) wird von ihrem Mann Joel (Marcelo Alonso) nach einem Streit mitten in der chilenischen Wildnis zurückgelassen. Dieser Donnerschlag trifft sie wie aus heiterem Himmel, aber das reinigende Gewitter bleibt aus. Was der erste gemeinsame Urlaubstag hätte werden sollen, entwickelt sich zu Solo-Trips der beiden. Die geschockte Carla lässt sich einfach treiben und verschafft sich so unverhofft Freiraum für seelenerforschende Ich-Experimente, sie beginnt sich naturverbunden zu fühlen und blüht bei der Begegnung mit anderen einzelgängerischen Aussteigern auf. So trifft sie unter anderem einen Rucksack-Touristen (Diego Noguera), der sich Ulrik nennt, den ehemaligen Popstar (Pablo Ausensi) und zwei Cousinen (Viviana Herrera und Sofía Géldrez), die beide von sich behaupten, Susanna zu heißen. Im Nationalpark „Las siete tazas" (zu Deutsch: „Die sieben Tassen") versuchen die Mitglieder der kleinen Gruppe mit sich ins Reine zu kommen...

    Regisseurin Scherson nutzt die Abgeschiedenheit des Nationalparks für ein genaues Porträt der bunt zusammengewürfelten Gruppe bei ihren Grenzgängen zwischen Natur und Kultur. Jede Figur ist psychologisch fein gezeichnet und individuell ausgestaltet, Unterschiede und Gemeinsamkeiten sorgen für eine lebendige Gruppendynamik. Der Handlungsort mit seinen mehr als 250 unterschiedlichen Tier- und Pflanzenarten gibt Scherson dazu die Gelegenheit, mit Aufnahmen von Flora und Fauna gewitzte Kontrapunkte zur Figurenentwicklung zu setzen. Immer wieder schmuggelt sie an den Bildrändern oder im Hintergrund bemerkenswerte Details in die Erzählung und stellt zugleich mit lakonischen Dialogen sowie genau der richtigen Prise Humor sicher, dass ihr Film nicht in verklärende Esoterik abgleitet.

    Scherson zeigt in ihrem zweiten Langfilm eine unverwechselbare Handschrift und macht aus „Turistas" weit mehr als eine naiv-zivilisationskritische Studie. Subtil lässt sie etwa anklingen, wie urbane Trends sich selbst in relativer Wildnis unaufhaltsam Bahn brechen, indem sie etwa die symbiotischen Cousinen Susana und Susana im Gothic-Style auftreten lässt und sie in schwarze Klamotten mit Metallbehang steckt. Zugleich straft sie das pittoreske Klischeebild Lügen, das viele Städter – nicht nur aus Santiago - von der abgelegenen Provinz haben. So sind die grundsätzlichen Gegensätze zwischen Land und Stadt, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft hier keine zur Unversöhnlichkeit hochstilisierten Widersprüche, sondern stehen in komplexer Wechselwirkung.

    Fazit: Die chilenische Regisseurin Alicia Scherson zeichnet mit „Turistas" ein einfühlsames und zugleich ungeschöntes Porträt einer Gruppe von Aussteigern auf Zeit vor origineller Naturkulisse. Das sehenswerte Selbstfindungsdrama ist besonders für Arthouse-Fans mit etwas Lebenserfahrung empfehlenswert.

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