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    Oslo, 31. August
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Oslo, 31. August
    Von Ulf Lepelmeier

    Mit historischen Aufnahmen von Oslo, vor allem Heimvideos, und Off-Stimmen, mit denen sich an Szenen und Momente in der norwegischen Hauptstadt erinnert wird, beginnt Joachim Triers Drama „Oslo, 31. August". In seinem zweiten Spielfilm, einem losen Remake von Louis Malles Klassiker „Das Irrlicht", schildert Trier den letzten Tag im Leben des 34-jährigen Anders. Obwohl seine Hauptfigur gerade aus der Entzugsklinik entlassen wurde und darüber sinniert, ob er neu anfangen oder den Freitod wählen soll, versagt sich Trier jeglicher übertriebener Dramatik oder Sentimentalität. Vielmehr erzeugt er mit einem semidokumentarischen Stil einen berührenden Schwebezustand, mit dem das abwägende, zaghafte Innehalten vor der zentralen Lebensentscheidung evoziert wird.

    Oslo, 30. August: In der Morgensonne ergreift Anders (Anders Danielsen Lie) einen großen Stein und geht von Selbstvorwürfen geplagt in einen See. Doch sein Lebensdrang ist stärker, er taucht wieder auf und kehrt nach dem unbeholfenen Suizidversuch in sein karges Zimmer zurück, bevor das tägliche Therapiegespräch beginnt. In zwei Wochen soll Anders nach langem Aufenthalt die entlegene Entzugsklinik verlassen und sein Leben wieder selbst lenken. Am heutigen Tag hat er für ein Bewerbungsgespräch bereits die Genehmigung bekommen, sich allein nach Oslo zu begeben. Doch der 34-Jährige ist sich alles andere als sicher, ob er sich wieder ein neues Leben aufbauen kann und vor allem überhaupt will. Er fühlt sich losgelöst von der Gesellschaft, sieht keinen Sinn darin, sich einzugliedern und nach zahlreichen verpassten Chancen noch einmal nach Erfolg, Familie und Glück zu streben. Im Laufe des Tages versucht Anders in Gesprächen mit alten Freunden und durch die Beobachtung seiner Umwelt zu ergründen, ob er einen Neuanfang wagen oder seinem Leben ein Ende setzen will. Nach 24 melancholischen Stunden ist am Morgen des 31. August seine Entscheidung gefallen....

    Nach dem formal verspielten Trennungsdrama „Auf Anfang" besticht Joachim Triers zweiter Spielfilm durch seine klare Inszenierung und der sensiblen, doch gänzlich unsentimentalen Schilderung einer existenziellen Krise. Angelehnt an Pierre Drieu La Rochelles Roman „Le Feu Follet" aus dem Jahre 1931 und Louis Malles filmischer Adaption von 1963 entfaltet „Oslo, 31. August" trotz seiner beinahe dokumentarisch anmutenden Sachlichkeit einen melancholischen Sog und entführt auf feinfühlige Weise in die Gefühlswelt eines Sinnsuchenden: Lohnt es sich mit einem mittelmäßigen Leben zufrieden zu sein, sich zu arrangieren und sich Zufriedenheit einzureden? Diese Fragen reflektiert Anders im Laufe des Films in Gesprächen mit ehemaligen Weggefährten und Freundinnen. Immer wieder wird dabei der Ist-Zustand mit einstigen Träumen und Glücksvorstellungen verglichen – und scheidet oft schlechter ab. Die schmerzlich-ehrlichen Unterhaltungen über einstige Zukunftsvorstellungen, nie gelebte Wünsche und das Eingestehen des persönlichen Scheiterns, formt Trier dabei zum Abbild einer ganzen Generation von ewig Suchenden.

    Ruhig und feinfühlig begleitet der Film seinen Protagonisten und lässt an dessen besonderer Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt teilhaben. Anders Danielsen Lie („Auf Anfang") berührt mit der sensiblen Verkörperung eines von inneren Unruhen und Verzweiflung geplagten Mannes, der während eines Tages mit unterschiedlichen Lebensträumen, -ängsten und -arrangements konfrontiert wird und Leid und Schönheit des Daseins abwägt. Mit seiner subtilen Darstellung zeichnet Danielsen Lie eine verlorene Seele, der die Welt einst weit offen stand.

    Doch diese Zeit ist lange vorbei: Allein der Griff zu Drogen verspricht ein zumindest punktuelles Ausblenden der Leere, ein Eindämmen von Schuldgefühlen und Trauer. Doch um ein normales, durchschnittliches Leben zu führen ist es für den Journalisten zu spät: Wenn er da im Cafe sitzt und den Gesprächen an den Nebentischen lauscht, wirken diese in ihrer Alltäglichkeit profan, führen Anders aber zugleich ein Leben vor Augen, das er nie haben wird.

    Fazit: „Oslo, 31. August" beschreibt in beinahe dokumentarischer Schlichtheit den von schwebender Melancholie erfüllten Tag eines jungen Mannes, der vor dem Neuanfang oder der Beendigung seines Lebens steht. Mit seiner zweiten Regiearbeit ist Joachim Trier ein wahrhaftiger, kraftvoller und poetischer Film über Todessehnsucht, Lebenslügen und die Kraft der Erinnerungen gelungen.

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