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    Halt auf freier Strecke
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Halt auf freier Strecke
    Von Lars-Christian Daniels

    Das Leben ist vergleichbar mit einer Kutschfahrt vor zweihundert, dreihundert Jahren: aufregend, aber selten bequem, hier und da mit unangenehmen Stolpersteinen oder Erschütterungen, und doch immer wieder auch mit tollen Aussichten und unerwarteten Begegnungen. Nicht immer verläuft die Reise nach Plan und schnurstracks geradeaus: Umwege müssen in Kauf genommen werden, um das Ziel zu erreichen. Mit dieser Metapher kündigte die Moderatorin beim Filmfestival in Zürich Andreas Dresens bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführtes Drama „Halt auf freier Strecke" an – und traf damit den Nagel auf den Kopf. Der in Gera geborene Regisseur skizziert in 95 bewegenden Minuten, wie das Leben einer glücklichen Familie, die gerade die gemeinsame Zukunft im neuen Eigenheim angehen wollte, durch einen schweren Schicksalsschlag von heute auf morgen aus den Fugen geraten kann. Dabei bringt er das Kunststück fertig, den Zuschauer am Ende mit einem guten Gefühl aus seinem Film zu entlassen, obwohl sein halbdokumentarisch gehaltener Film stellenweise gehörig an die Nieren geht.

    Frank (Milan Peschel) und Simone Lange (Steffi Kühnert) sind mit ihrer 14-jährigen Tochter Lilli (Talisa Lilli Lemke) und ihrem achtjährigen Sohn Mika (Mika Nilson Seidel) gerade in ein neues Haus gezogen, als es mit dem trauten Familienleben plötzlich schlagartig vorbei ist. Die Ärzte diagnostizieren bei Frank einen bösartigen Gehirntumor, der bereits so groß ist, dass er nicht mehr operativ entfernt werden kann. Seine Lebenserwartung, die mit starken Medikamenten und einer Chemotherapie noch ein wenig verlängert wird, kalkulieren die Mediziner auf zwei bis drei Monate. Für die Langes bricht eine Welt zusammen. Während Frank von der Angst auf den nahenden Tod überwältigt wird und geistig von Tag zu Tag abbaut, stehen Simone und die beiden Kinder vor Existenzängsten und der quälenden Frage, was die Zukunft ohne Ehemann und Vater bringen wird...

    Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon") setzt bei „Halt auf freier Strecke" einmal mehr auf den für ihn typischen semi-dokumentarischen Stil, der vor allem seinen mehrfach preisgekrönten Improvisations-Film „Halbe Treppe" auszeichnete: Nie hat der Zuschauer das Gefühl, das Geschehen im Haus der Langes folge einem Drehbuch. Dank der extrem zurückhaltenden Kamera, die selten mehr als eine neutrale Beobachterperspektive einnimmt, bestechend authentisch wirkenden Dialogen und einer auffallend zurückhaltenden Beleuchtung macht „Halt auf freier Strecke" zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, einer durchkonstruierten Drehbuchvorgabe unterworfen zu sein. Die Dramaturgie ergibt sich direkt aus Franks zunehmend schwächerem Geisteszustand: Während anfangs nur gelegentliche Aussetzer und das Vergessen von kleineren Alltäglichkeiten auf sein Leiden hindeuten, verwechselt der Sterbenskranke schon bald das Kinderzimmer seiner Tochter mit der Toilette und ist beim Brötchenkauf hoffnungslos überfordert. Dies führt unweigerlich zu Problemen, die das Zusammenleben mit Ehefrau Simone und den Kindern von Tag zu Tag erschweren. Und es sind diese Schwierigkeiten, die sich alsbald zum zentralen Konflikt des Films auswachsen.

    Dass sich „Halt auf freier Strecke" dabei so beklemmend realistisch anfühlt, liegt neben der natürlichen, sensiblen Inszenierung vor allem an der fantastischen Leistung des gelernten Theaterschauspielers Milan Peschel („What A Man", „Das wilde Leben"). Dieser mimt zunächst einen aufbrausenden, jähzornigen Kranken, der seinen geistigen Verfallsprozess nicht wahrhaben will, und schon im nächsten Moment einen weinenden kleinen Jungen, der sich wahnsinnig vor dem Sterben fürchtet. Peschel erweist sich als ausgezeichnete Wahl für die Hauptrolle: Er bringt Franks extreme Stimmungsschwankungen glaubhaft auf die Leinwand, ohne dabei zu übertreiben. In einer der stärksten Sequenzen des Films kniet der überforderte Familienvater im Zimmer seines Sohnes und starrt ratlos auf die simple Bauanleitung eines IKEA-Hochbetts, das selbst sein achtjähriger Sprössling aufbauen könnte. Als er schließlich vollkommen die Fassung verliert, wird seine Hilflosigkeit für den Zuschauer erschreckend greifbar.

    Andreas Dresen begeht nicht den Fehler, seine Geschichte zu sehr auf Frank und den schleichenden Prozess bis hin zu seinem unausweichlichen Tode auszurichten. Im Gegenteil: Der Regisseur und Drehbuchautor verleiht auch den übrigen Familienmitgliedern Profil und Tiefe. Während Steffi Kühnerts („Das weiße Band") Simone trotz ihrer bedingungslosen Liebe zunehmend gereizt auf die immer stärker zutage tretenden Schwächen ihres Mannes reagiert und sich irgendwann gar den Moment der Erlösung herbeiwünscht, flüchtet sich Tochter Lilli ins Turmspringen und schämt sich bald dafür, gleichaltrige Freundinnen ins Haus des kranken, gesellschaftsuntauglichen Vaters bringen zu müssen. Neben Talisa Lilly Lemke als Lilli gebührt auch dem zweiten Leinwanddebütanten Mika Nilson Seidel ein Sonderlob: Er glänzt vor allem in den rührenden Sequenzen, in denen Mika sich geduldig um den überforderten Vater kümmert und sich dabei erwachsener verhält, als man es von einem Knirps in seinem Alter erwarten würde.

    Nur einmal schießt Dresen doch spürbar über sein Ziel hinaus: Den tödlichen Tumor, der sich in Franks Kopf eingenistet hat, lässt er in den Tagträumen des Familienvaters kurzerhand zu einem Menschen aus Fleisch und Blut werden, der nicht nur neben Frank auf der Couch liegt, sondern auch in Radio und Fernsehen auftritt und mit Showmaster Harald Schmidt bereitwillig über die Qualen plaudert, die er seinem gebeutelten Opfer bereitet. Diese Tumor-Sequenzen sind vor allem deswegen ärgerlich, weil Dresen auch ohne solche Albernheiten durchaus heitere Töne anzustimmen vermag – etwa wenn die Familie dem orientierungslosen Vater visuell unter die Arme greift und das ganze Haus mit praktisch beschrifteten Post-it-Zetteln tapeziert („Das ist NICHT die Toilette!"). Die groteske iPhone-App hingegen, die mit nervtötender Quietschestimme den Satz „Ich habe einen Gehirntumor, das ist nicht lustig!" wiederholt, ist genau das: nicht lustig.

    Fazit: Andreas Dresen knüpft mit „Halt auf freier Strecke" nahtlos an die Qualität seiner letzten Filme „Wolke Neun" und „Whisky mit Wodka" an. Die Finalsequenz im Haus der Langes bildet den bewegenden Höhepunkt eines authentisch inszenierten und glänzend gespielten Familiendramas, das den Zuschauer noch lange nach dem Kinobesuch beschäftigt, ihm aber auch eine wichtige Botschaft mit auf den Weg gibt: Das Leben geht weiter – komme, was da wolle.

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