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    Was bleibt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Was bleibt
    Von Carsten Baumgardt

    Vor nicht allzu langer Zeit spielte der deutsche Film auf der Berlinale zumindest bei der Verleihung der Hauptpreise überhaupt keine Rolle mehr, dann beendete Fatih Akın 2004 eine 18 Jahre anhaltende Durststrecke. Der Goldene Bär für „Gegen die Wand" war ein Signal des Aufbruchs, mittlerweile gehören preiswürdige deutsche Beiträge im Wettbewerb der Filmfestspiele von Berlin wieder zur Normalität. Im Jahrgang 2012 sind sogar gleich drei heimische Hochkaräter vertreten: Matthias Glasner mit „Gnade", Christian Petzold mit „Barbara" und Hans-Christian Schmid mit „Was bleibt". Die renommierten Autorenfilmer sind jeweils zum fünften Mal in Berlin am Start – nicht ohne Grund. Schmids grandioses, überragend gespieltes Familiendrama „Was bleibt" ist vielleicht sein reduziertester, aber auch sein bester Film seit dem Meisterwerk „Lichter". In Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautoren Bernd Lange („Sturm", „Requiem") entstand eine exemplarische Bestandsaufnahme zum Thema Familie, in der sich wohl jeder wiedererkennen kann.

    Der Berliner Schriftsteller Marko Heidtmann (Lars Eidinger) bricht mit seinem kleinen Sohn Zowie (Egon Merten) zu einem Wochenendbesuch ins Rheinische auf. Von seiner Frau Tine (Eva Meckbach) lebt er schon seit einem halben Jahr getrennt, ohne dass seine Familie davon etwas ahnt. Damit bleibt das Idyll stabil. Mutter Gitte (Corinna Harfouch) und Vater Günter (Ernst Stötzner) residieren in einem repräsentativen Anwesen, Geld ist genügend da und auch Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) hat es geschafft: Er betreibt in seinem Heimatort eine eigene Zahnarztpraxis und ist mit seiner Freundin Ella (Picco von Groote) glücklich. Doch bei nur etwas genauerem Hinsehen offenbaren sich schon Unstimmigkeiten. Als Verleger-Vater Günter verkündet, seine Anteile an der eigenen Firma verkauft zu haben und sich zur Ruhe zu setzen, bekundet auch seine Frau Gitte ihren Willen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Vor einiger Zeit habe sie ihre Medikamente abgesetzt und plane auch in Zukunft nicht, welche einzunehmen. Die Familie ist sprachlos. Vor allem Jakob ist schockiert, weil er weiß, wie sensibel der Umgang mit seiner manisch-depressiven Mutter ist. Im Laufe des Wochenendes spitzt sich die brisante Situation zu...

    Eigentlich ist Hans-Christian Schmids („23", „Crazy") Wirken fern der sogenannten „Berliner Schule" anzusiedeln. Aber so nah wie mit „Was bleibt" ist der in Berlin lebende Bayer Kollegen wie Thomas Arslan („Im Schatten"), Christoph Hochhäusler („Unter dir die Stadt"), Angela Schanelec („Orly") oder Benjamin Heisenberg („Der Räuber") noch nie gekommen. In „Was bleibt" sucht auch Schmid auf unspektakuläre Weise im Alltäglichen das Besondere. Nach und nach entblößt er die Seelen seiner Protagonisten und verzichtet dabei auf eine allzu eindeutige Dramaturgie von Ursache und Wirkung. Als Mutter Gitte enthüllt, ihre Medikamente abgesetzt zu haben, ist das natürlich ein Paukenschlag und ein Wendepunkt, aber die Tragweite dieser mutmaßlich verheerenden Entscheidung ist nur in den Gesichtern und in den sparsamen Gesten abzulesen. Schmids Inszenierung ist zurückhaltend, aber präzise: Die seit Jahrzehnten zugunsten einer Fassade gutbürgerlichen Glücks verdrängten und ignorierten Emotionen werden zunächst ganz subtil zum Vorschein gebracht, zu selbstverständlich war allen die Zufriedenheitsroutine im Lauf der Zeit geworden.

    Bernd Langes punktgenaue Dialoge entfalten durch die feinfühlige Regie und die nuancierten Darbietungen der Darsteller ihre ganze Wirkung. Neben dem Gesagten schwingt immer das Unausgesprochene mit, das Wesentliche spielt sich auf einer unterschwelligen Ebene ab – bis es im letzten Drittel an die Oberfläche drängt und ein außergewöhnliches Ereignis provoziert. Der Katalysator für diese Entwicklung ist die Figur der Gitte. An ihrem Wesen reiben sich alle anderen. Jeder hat seine eigene Art mit ihrer labilen Verfassung umzugehen. Diese Unterschiede werden zur Grundlage scharfgezeichneter Charakterporträts, Schmid und Lange legen den emotionalen Kern ihrer Figuren offen: Das ist schmerzhaft, aber auch heilsam.

    Bei aller sonstigen Zurückhaltung in der Figurenzeichnung und Handlungsführung gibt es in „Was bleibt" mit dem von außen dazukommenden Marko doch einen klaren Sympathieträger, der sich als Identifikationsfigur anbietet. Aber auch der zieht uns erst nach und nach auf seine Seite. Zunächst beeindruckt der großartige Lars Eidinger („Alle Anderen", „Hell - Die Sonne wird euch verbrennen") eher durch seine reine Präsenz, seine lässige Arroganz. Aber es steckt mehr dahinter und er ist der Rettungsanker für das zerberstende Familiengefüge. Corinna Harfouch („Whisky mit Wodka", „Im Winter ein Jahr") wiederum ist ebenso logische wie ideale Besetzung für die Mutter Gitte, sie meistert die Aufgabe gewohnt souverän. Ernst Stötzner („Die kommenden Tage") bringt wunderbar die Selbstgerechtigkeit seiner Figur zum Ausdruck, während sich die Theaterschauspieler Sebastian Zimmler und Picco von Grote bei ihren Kinodebüts nahtlos in das tolle Ensemble einfügen.

    Fazit: Hans-Christian Schmids bitteres Familien-Kaleidoskop ist begeisterndes Schauspieler- und Dialogkino, ein kühler Film der unterdrückten Gefühle. Und der clevere, mystische Schlusskniff gibt dem Drama noch das gewisse Etwas und lässt zugleich Freiraum für eigene Gedanken.

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