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    Unsere Kinder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Unsere Kinder
    Von Lars-Christian Daniels

    Im September 2012 sorgte das Geständnis einer 28-jährigen Mutter aus dem schleswig-holsteinischen Husum bundesweit für Entsetzen: Die Frau brachte fünf Kinder heimlich zur Welt, tötete sie und versteckte die Babyleichen in Kartons und Plastiktüten im eigenen Keller. Das Motiv: Angst vor ihrem Ehemann, der sie zu verlassen drohte, weil er nur zwei Kinder und keine weiteren finanziellen Einschränkungen wollte. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 2008 in Belgien, als eine 45-jährige, depressive Frau nach einem Streit mit ihrem Ehemann, der in sein Heimatland Marokko zurückkehren wollte, ihre fünf Kinder tötete und anschließend versuchte, sich das Leben zu nehmen. Auf dieser wahren Begebenheit beruht Joachim Lafosses Familiendrama „Unsere Kinder", der bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere feierte und der belgische Vorschlag für den Oscar als Bester nicht-englischsprachiger Film 2012 ist. Mit fast dokumentarischer Strenge wird die psychisch ausweglose Situation der überforderten Mutter nachgezeichnet und ohne jede Effekthascherei inszeniert.

    Die Französin Murielle (Emilie Dequenne) und der Marokkaner Mounir (Tahar Rahim) sind eigentlich ein glückliches junges Paar – wären da nicht die finanziellen Probleme. Dann wird Murielle schwanger und die Geldsorgen nehmen existenzbedrohende Ausmaße an. In dieser Situation zieht das Paar notgedrungen in die Wohnung von Mounirs Adoptivvater, dem belgischen Arzt André (Niels Arestrup), ein, um zumindest ein günstiges Dach über dem Kopf zu haben. Doch spätestens als Murielle ein zweites und drittes Kind zur Welt bringt, fühlt sich die psychisch labile Mutter zunehmend eingeengt: Während Mounir einen Assistenzjob in Andrés Praxis annimmt, fällt ihr zu Hause die Decke auf den Kopf und es bahnt sich eine Tragödie an...

    „Die Kinder müssen in Marokko beerdigt werden", schluchzt Murielle entkräftet, bevor sich die erschütterten André und Mounir auf dem Krankenhausflur in tiefer Trauer in die Arme fallen. In der nächsten Einstellung verladen Flughafenarbeiter vier weiße Kindersärge in ein Flugzeug. Regisseur Joachim Lafosse („Nue Propriété"), der gemeinsam mit Thomas Bidegain („Der Geschmack von Rost und Knochen") und Matthieu Reynaert auch das Drehbuch zum Film geschrieben hat, zeigt schon im Prolog das kaum fassbare Ende des Dramas. Dann springt er einige Jahre zurück: Mounir und Murielle lieben sich leidenschaftlich auf einem Autositz, scheinen voller Zukunftsfreude. Beginnend mit dieser knisternden Sequenz zeichnet Lafosse das Geschehen im Zeitraffer nach, überspringt dabei immer wieder einige Monate und setzt seine Erzählung mit der Geburt des nächsten Kindes fort. Wie konnte es zu dieser unfassbaren Katastrophe kommen? Eine eindeutige Antwort gibt der Filmemacher nicht.

    Lafosse zeigt deutlich, dass die Ursache für den Mord keineswegs allein in der erzieherischen Überforderung Murielles zu suchen ist, zumal ihre vier Sprösslinge keine verzogenen Rabauken und damit Kandidaten für die nächste Ausgabe der „Super-Nanny" sind. Die Kinder verlangen lediglich ein normales Maß an Aufmerksamkeit. Murielles Depressionen scheinen vielmehr auch damit zusammenzuhängen, dass sie in der Schuld von Mounirs Adoptivvater steht: Der undurchsichtige André, mit dem die junge Mutter nie wirklich warm wird, dem sie aber finanziell ausgeliefert ist, mischt sich in Erziehungsfragen ein und verursacht immer wieder Streit zwischen dem Paar. Der wohlhabende Mediziner, bei dem Murielle zugleich in Behandlung ist, gibt sich zwar vordergründig nett, zahlt die Familienpizza für alle und macht seiner angehenden Schwiegertochter teure Geschenke – doch was geht wirklich in dem alternden Bonvivant vor? Immer wieder zitiert André Murielle zum Gespräch und bietet ihr Unterstützung an, um sie schon im nächsten Augenblick wieder mit ihren Sorgen und ihrem Alltag allein zu lassen.

    Gekonnt schnürt Lafosse den Strick, der sich mit der Geburt des ersten Kindes um Murielles Hals legt, immer enger und steuert mit ruhigem, sachlichem Erzählton und einer zurückhaltenden Inszenierung auf die unausweichliche Katastrophe zu. Neben dem gewohnt souveränen Niels Arestrup („Ein Prophet", „Gefährten") überragt die fantastisch aufspielende Emilie Dequenne („Rosetta", „Der Pakt der Wölfe"), die in Cannes für ihre großartige Darbietung als „Beste Schauspielerin" in der Reihe „Un Certain Regard" ausgezeichnet wurde. In einer der stärksten Szenen des Films demonstriert sie eindrucksvoll ihr Können: Anfangs noch fröhlich ein Lied aus dem Radio mitträllernd, verliert Murielle während einer rund dreiminütigen Autofahrt plötzlich die Contenance und beginnt zu schluchzen, bevor sie den Wagen schließlich stoppt und weinend zusammenbricht. Ohne einen einzigen Schnitt inszeniert Lafosse diese ergreifenden Minuten, in denen die Verzweiflung der auch körperlich gezeichneten, kreidebleichen Mutter wortlos auf den Punkt gebracht wird.

    Fazit: In „Unsere Kinder" wird ein tragischer Kindermord in Belgien in schlichten, beklemmenden Bildern nachgezeichnet. Aus der starken Besetzung des verstörenden und zutiefst betroffen machenden Dramas ragt vor allem Emilie Dequenne in der Hauptrolle der überforderten Mutter heraus.

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