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    Italy - Love it or leave it
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Italy - Love it or leave it
    Von Werner Busch

    Mit seinem McDonald‘s-Selbstversuch „Super Size Me" erwies sich Morgan Spurlock 2004 wohl als der extremste Epigone von Michael Moore, der in seinen polemischen Filmen wie „Bowling for Columbine" schon sehr weitgehend auf den Anschein von Objektivität im Dokumentarfilm verzichtet hatte. Doch Spurlock ging noch weiter: Der Regisseur entblößte sich selbst, kotzte vor der Kamera eine übergroße Essenportion aus und lässt seine Freundin ungeschönt über die negativen Auswirkungen der Fastfood-Diät auf seine Libido erzählen. Ein neutraler dokumentarischer Blick existiert hier nicht mehr, im Gegenteil: Der Zuschauer soll mit allen Mitteln von den Erkenntnissen und Überzeugungen des Filmemachers überzeugt werden. Etliche solch höchst subjektiver Dokumentationen wie etwa David Siedekings David-Lynch- und Selbstsuche „David Wants to Fly" sind in den vergangenen Jahren entstanden, insbesondere jüngere, unabhängige Filmemacher orientieren sich stärker am Gonzo-Stil von Hunter S. Thompson als an überkommenen journalistischen Regeln – so auch Gustav Hofer und Luca Ragazzi in ihrem dokumentarischen Roadmovie „Italy – Love it or leave it".

    Die beiden Regisseure und Protagonisten in Personalunion durchfahren Italien und versuchen sich an einer Bestandsaufnahme der Gegenwart in ihrer Heimat und werfen Fragen auf: Was ist das für ein Land, in dem ein Regierungschef ein ehemaliges Showgirl zur Ministerin für Gleichstellungsfragen macht? In dem Kinder ihr eigenes Klopapier in die Schule mitbringen müssen, weil dafür kein Geld mehr da ist? In dem George Clooney vor seiner Villa im Comer See schwimmt, wo aber gleichzeitig ungefiltert Abwässer hineinfließen? „Armer George Clooney! Der badet in unserer Scheiße?" „Ja, und die steht uns bis zum Hals", kommentieren die Filmemacher.

    Seine stärksten Momente hat „Italy", wenn die Absurditäten der Regierung Berlusconi bebildert werden: etwa ein Pin-Up-Kalender eben jener Ministerin für Gleichstellung – der sich allerdings nicht so gut verkauft wie ein Fotokalender von Mussolini. Oder wütende Interviews mit Besuchern einer Veranstaltung der Popolo della Libertà – Berlusconis Partei – die beinahe in Handgreiflichkeiten münden. Dazu kommen Szenen der italienischen Realität, zu geschlossenen Firmen, zu wahnwitzig unnützen Großbauprojekte, die als Ruinen von ihrer Absurdität zeugen, zu Niedriglöhnen von 3,50 Euro die Stunde und 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Dieser kaleidoskopartige Blick wird durch eine etwas bemüht wirkende Erzählkonstruktion zusammengehalten: Hofer und Ragazzi müssen in sechs Monaten aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen und überlegen, ob Italien noch das Land ist, in dem sie leben wollen. Während Ragazzi in Rom bleiben möchte und versucht, die Vorzüge Italiens zu betonen, ist Hofer viel kritischer und spielt mit dem Gedanken, nach Deutschland auszuwandern. Die Ergebnisse ihrer Italienreise könnten also zu einem Wendepunkt in ihrem Leben führen, aber letztlich wirken die Streitgespräche zwischen ihnen allzu inszeniert und der Rahmen erscheint am Ende als reiner Kunstgriff.

    Nach einer schönen ersten Hälfte beginnt sich der erzählerische und ästhetische Ansatz abzunutzen. Immer willkürlicher wirken die gewählten Themen und Schauplätze, betont lustige Animationen müssen herhalten, um die Stationen der Reise zu bebildern. Eine durchgehend fesselnde Dramaturgie kann so nicht entstehen, die spannenden Ansätze werden weitgehend verschenkt. Dabei ließe sich trotz einiger landestypischer Auswüchse am Beispiel Italiens auch noch sehr viel über die Gesamtsituation in Europa erzählen. Ragazzi und Hofer bebildern schließlich den schleichenden Verfall sozialer Systeme und damit den Niedergang der Gesellschaft als Ganzes. Die Dekaden nie zuvor gekannter Stabilität und stetig wachsenden Wohlstands sind vorbei: Eine Erkenntnis, die seit der Uraufführung des Films Ende 2011 nur noch frappierender geworden ist.

    Fazit: Obwohl „Italy – Love it or leave it" als Ganzes aufgrund dramaturgischer Schwächen letztlich nicht funktioniert, lenken die Filmemacher den Blick auf wichtige gesellschaftliche Probleme, die nicht auf Italien beschränkt sind.

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