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    Die Vermessung der Welt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Vermessung der Welt
    Von Andreas Staben

    Daniel Kehlmanns 2005 erschienener historischer Roman „Die Vermessung der Welt" ist einer der größten Erfolge der deutschen Nachkriegsliteratur. Die fiktive Doppelbiografie über die beiden Wissenschaftskoryphäen Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt wurde in über 40 Sprachen übersetzt und war laut New York Times im Jahr 2006 das weltweit am zweithäufigsten verkaufte Buch. Eine Kino-Adaption des zeitlich, räumlich und gedanklich weitgespannten Werkes muss jedem Leser als gewaltige Herausforderung erscheinen und den Gedanken, diesen Stoff in nur 31 Drehtagen, in aufwändiger 3D-Technik und zu großen Teilen im Amazonasgebiet von Ecuador zu verfilmen, mögen manche als – das Wortspiel muss sein – vermessenes Wagnis betrachten. Aber die Abenteuerlust und die Risikobereitschaft der Filmemacher erweist sich nicht nur als hübsche Parallele zum Pionier- und Entdeckergeist der beiden Hauptfiguren, sondern sie macht sich auch künstlerisch bezahlt. Gerade die Entscheidung, in 3D zu drehen, ist ein wahrer Glücksfall. Die dritte Dimension führt zu beeindruckend plastischen Bildern von wilder Flora und Fauna, die hinter keiner Hollywood-Produktion zurückstehen, dazu besitzt sie hier aber auch einen erzählerischen Mehrwert wie er bisher fast noch nie zu sehen war. So wird aus „Die Vermessung der Welt" unter der Regie von Detlev Buck ein faszinierendes Film-Abenteuer und ein lebendiger Abenteuerfilm über zwei ungewöhnliche Männer, über Liebe, Wissenschaft, Geschichte und Natur.

    In den 1780er Jahren wächst Carl Friedrich Gauß (Lennart Hänsel) in bescheidenen Verhältnissen auf, bis sein Lehrer Büttner (Karl Marcovics) seine außergewöhnliche mathematische Begabung entdeckt. Der Junge wird dem Herzog von Braunschweig (Michael Maertens) vorgestellt, der ihm ein fürstliches Stipendium gewährt. Ebenfalls bei Hofe zu Gast ist der Adelssprössling Alexander von Humboldt (Aaron Denkel), ein vorlauter junger Mann mit großen Plänen. Das soll vorerst die einzige Begegnung der beiden bleiben: Während Gauß (als Erwachsener: Florian David Fitz) im stillen Kämmerlein bahnbrechende Abhandlungen verfasst, zieht Humboldt (Albrecht Abraham Schuch) hinaus in die weite Welt, um sie zu vermessen und die Natur zu erforschen. An der Seite des preußischen Beamten ist der Franzose Aimé Bonpland (Jérémy Kapone), er begleitet ihn nach Südamerika, tief in den Dschungel des Amazonas und in Kannibalengebiet. Humboldt geht ganz in seiner Forschung auf, für die er erhebliche Risiken auf sich nimmt, Gauß dagegen hat nach dem Abschluss seines Buches das Gefühl, sein Lebenswerk getan zu haben, und gründet mit Johanna (Vicky Krieps) eine Familie. Nur zögernd folgt er 1828 einer Einladung Humboldts zu einem Kongress nach Berlin und macht sich gemeinsam mit seinem Sohn Eugen (David Kross) auf den beschwerlichen Weg...

    Die Freude an neuen Herausforderungen ist geradezu zu einem Markenzeichen von Detlev Buck geworden. Der einst als Komödienspezialist („Wir können auch anders", „Männerpension") bekanntgewordene Norddeutsche hat sich längst auch mit Erfolg am realistischen Drama („Knallhart"), am Kinderfilm („Hände weg von Mississippi") und an der transkontinentalen Liebesgeschichte („Same Same But Different") probiert. Dabei verzichtet er meist auf die große, dramatisch aufgebauschte Geste. Diese Tendenz zum Understatement hat er mit Daniel Kehlmann gemein. So erscheint die Paarung der beiden, die gemeinsam mit Daniel Nocke („Sie haben Knut") das Drehbuch erarbeiteten, als durchaus naheliegende Verbindung. Natürlich bleiben auch hier die bei Literaturverfilmungen unvermeidlichen Reibungsverluste nicht aus, bestimmte Aspekte wie etwa Humboldts moralisches Dilemma angesichts von Sklavenhandel und Zwangsarbeit oder sein kompliziertes Verhältnis zur Sexualität kommen etwas kurz. Auch die ganze, erst spät im Film aufgegriffene Handlung um Gauß‘ erwachsenen Sohn Eugen fügt sich nicht unbedingt organisch ins Geschehen ein. Dazu kommt manche grobe Überspitzung (wer die Herzogskinder oder Humboldts hygienischen Fauxpas gegen Ende sieht, wird verstehen, was gemeint ist), die im Filmzusammenhang nicht ganz passend erscheint. Aber insgesamt ist vielleicht kein ganz einheitliches, aber ein absolut eigenständiges Werk entstanden, das vor allem durch seine kinospezifischen Stärken besticht.

    „Eine Landschaft ist doch keine Fläche!", sagt Johanna zu Gauß, als der ihr seine Methode der Landvermessung per Triangulation erklärt. Mit dieser Bemerkung löst sie nicht nur einen wissenschaftlichen Durchbruch bei dem Mathematiker aus, die ganze Szene ist auch einer der schönsten Momente ihrer ganz und gar ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Zugleich bietet der Satz, der mit der Hilfe eines Apfels gleichsam nebenbei anschaulich gemacht wird, auch eine absolut einleuchtende Begründung für den Einsatz der Dreidimensionalität. Dem flächigen Kinobild verleiht Kameramann Slawomir Idziak („Harry Potter und der Orden des Phönix", „Black Hawk Down") ein unglaublich plastisches Gepräge, durch die sorgfältige Arbeit mit Vorder- und Hintergründen wird uns die Erfahrungswelt einer längst vergangenen Zeit sinnlich nahegebracht und eine erstaunliche Lebendigkeit erreicht. So ist beispielsweise selbst der eben erwähnte Apfel eine visuelle Pracht, während Gauß‘ „Zahnarzt"-Besuch auch für das Publikum zur Tortur wird. Bei Humboldts Expeditionen ist es dann fast so, als wäre man selbst dabei. Die Naturaufnahmen von Berggipfeln, Wasserfällen und dichtem Dschungel, mehr noch die Bilder von Insekten, Reptilien, Affen und Aalen sind schon für sich genommen spektakulär. Wenn dann noch eine schwer beladene Ameise über Humboldts Notizen krabbelt, wird das zugleich zum kleinen Kommentar zur wissenschaftlichen Fleißarbeit.

    „Wahre Liebe oder reine Vernunft", das sind in Gauß‘ Worten die beiden möglichen Wege zum Glück, eine wohlklingende, aber allzu feinsäuberliche Einschätzung, die in den Worten des greisen Kant (Peter Matic), der seinen Diener „Wurst und Sterne" kaufen schickt, ein ironisches Echo findet. Buck setzt dem Ordnungsdrang der Wissenschaft die Unaufgeräumtheit des Lebens entgegen und macht sich das abschließende Bekenntnis seiner Hauptfiguren zur Neugier zu Eigen. Auf diesem Weg folgen ihm auch die Schauspieler. Albrecht Abraham Schuch („Neue Vahr Süd") zeigt uns Humboldts Eitelkeit und seine Selbstgerechtigkeit, aber er lässt ihn nie zur Witzfigur verkommen. Genauso ist es beim genialen Gauß, der in Florian David Fitz‘ („Vincent will Meer") Darstellung zum ungeduldigen, aber nicht unduldsamen Stauner wird.

    Die beiden Wissenschaftler sind etwas weniger extrem gezeichnet als im Roman, was sie nur menschlicher macht, wobei die Gauß-Figur alles in allem den etwas stärkeren Eindruck macht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Humboldts Techtelmechtel mit seinem Begleiter Bonpland zwar amüsant sind, aber meist auch recht oberflächlich bleiben, während Gauß eine richtige Liebesgeschichte erleben darf. Die von Vicky Krieps‘ („Wer ist Hanna?") mit berückender Natürlichkeit verkörperte Johanna sieht den Mann im Genie Gauß und begegnet seinen Überlegenheitsgefühlen ganz unbefangen, mit erfrischendem Pragmatismus, aber vor allem auch mit Selbstbewusstsein. Wenn der Forscher sogar in der Hochzeitsnacht das Liebesspiel unterbricht, um hastig einen mathematischen Geistesblitz aufs Papier zu kritzeln, versteht sie das einfach als Kompliment. Buck, Kehlmann und die Schauspieler finden für diese Romanze einen wunderbaren Tonfall, der zugleich ironisch, amüsant, charmant und liebevoll ist. Diese Mischung gelingt nicht für den ganzen Film, aber über weite Strecken ist „Die Vermessung der Welt" ganz großes Kino – und zwar mit Herz und Verstand!

    Fazit: Detlev Bucks Adaption von Daniel Kehlmanns Roman ist ein bildgewaltiger 3D-Historienfilm über das Abenteuer der Neugier: ein geglücktes Wagnis und ein echtes Kino-Ereignis.

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