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    Sons of Norway
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sons of Norway
    Von Andreas Günther

    Chaotisch wird es bei Generationenkonflikten vor allem dann, wenn die alte Garde partout nicht auf ihrer Seite der Barrikade bleiben will. So wie in Jens Liens Tragikomödie „Sons of Norway" nach einem autobiografischen Roman von Nikolaj Frobenius („Todesschlaf - Insomnia"), der auch das Drehbuch verfasste: Der junge Nikolaj wirft dem Schulleiter eine leere Bierflasche an den Kopf und verwüstet Supermärkte, schmeißt fleißig Speed ein und spießt sich eine Sicherheitsnadel durch die Wange. Der Höhepunkt seines Punk-Rebellentums soll ein fetziger Auftritt mit seiner Band Dirt werden. Doch kurz vor dem Konzert kippt der zugedröhnte Drummer weg. Für ihn springt ein Mann mittleren Alters ein, bebrillt, mit rotem Vollbart und schwarzer Lederjacke. Nikolaj steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben: Es ist sein eigener Vater. Der Lärm ist ohrenbetäubend, das Publikum johlt, aber Nikolaj an seiner Bassgitarre hört nur das bedrohliche Hämmern der Sticks, die sein Vater so virtuos handhabt. Wie konnte es zu dieser Blamage vor den Kumpels kommen? Liens Film ist eine erfrischend kreativ erzählte Coming-of-Age-Geschichte, in der die klassische Vater-Sohn-Hierarchie ausgehebelt wird und letztendlich ein junger und ein alter Jugendlicher miteinander auskommen müssen.

    Norwegen, Weihnachten 1978. Im Reihenendhaus von Magnus (Sven Nordin) und Lone (Sonja Richter) isst man traditionellen Braten mit Bananen garniert. „Affennahrung" erachtet der Architekt, Kommunist, Hippie und Nietzsche-Verehrer Magnus als angemessen für die dressierte Menschheit. Seine Frau Lone arrangiert sich damit, seinem Sohn Nikolaj (Ǻsmund Høeg) macht's Spaß, der andere Sohn ist noch zu klein. Eine glückliche Familie ist das, bis die Mutter nach einem Unfall mit Fahrerflucht ins Koma fällt. Sie ist dann aber nicht mehr zu retten und stirbt. Magnus wird darauf schwer depressiv. Der kleine Bruder kommt zu den Großeltern und Nikolaj wird wie sein bester Freund Tor (Tony Veitsle Skarpsno) zum Punk: Mit zerrissenen Kleidern, gepierctem Gesicht, anarchischem Verhalten und vor allem der Musik der Sex Pistols. Alle kann er damit schocken - nur ausgerechnet seinen Vater nicht...

    Man sagt, dass manche Menschen niemals 15 Jahre alt gewesen sind, andere es so weit wie möglich ausgekostet haben und wieder andere es am liebsten ein Leben lang wären. Nikolaj, dessen Alter nie genau bestimmt wird, gehört zur zweiten Kategorie, sein Vater Magnus zur dritten. Wie großartig und furchtbar zugleich dies für Nikolaj ist, zeichnet Regisseur Jens Lien („Anderland") mit psychologischer Subtilität und einem Gespür für die Absurdität so mancher Revolte nach. Der Vater befreit den Sohn nicht nur mit einem furiosen rhetorischen Gegenangriff, als dieser wegen der Attacke auf den Schulleiter zur Verantwortung gezogen werden soll. Er kann die Punkbewegung sogar kulturgeschichtlich einordnen. Gleichzeitig ist Magnus für Nikolaj aber auch eine Katastrophe. Um anarchischer Infantilität und Provokation willen weigert er sich, jene Autorität zu sein, die Nikolaj hätte Halt geben können. Der erkennt das in einer brillant komponierten halluzinatorischen Szene, in der Magnus untätig bleibt, als die Suche nach dem am Tod der Mutter schuldigen Unfallfahrer offiziell eingestellt wird.

    Sven Nordin, der schon die Kultfigur „Elling" im gleichnamigen Film verkörpert hat, verbindet in seinem intensiven Spiel als Magnus Lebensschmerz und –lust. Aber was Punk-Legende, Sex-Pistols-Sänger und Co-Produzent Johnny Rotten höchstpersönlich Nikolaj in einer imaginierten Begegnung nach einem Selbstmordversuch zu sagen hat, ist doch arg dünn. Und tatsächlich gibt es im Film immer wieder Signale, dass der Punk längst überholt sein könnte. Während die anderen Punks gerade von Spießern verprügelt werden, küsst Nikolaj sehr leidenschaftlich und ein einziges Mal im Film das Groupie Nina (Camilla Friisk). Dazu erklingt Beethoven. Die Musik der wahren Gefühle – sie kommt von anderswo her. Und so präsentiert Jens Lien eine unterhaltsame Vater-Sohn-Geschichte, vermeidet dabei aber jede Verklärung. Er lädt nicht etwa zu naiver Identifikation ein, sondern regt zu kritischer Distanz zum Punk im Speziellen und zu Jugendwiderstandskulturen im Allgemeinen an.

    Fazit: Turbulent und tragisch, skurril und surreal, nostalgisch und nachdenklich erinnert „Sons of Norway" an die Punk- und Protestkultur der 1970er.

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